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Die Kontaktanzeige


Die Kontaktanzeige

Bild: Lêmrich

Bild: Lêmrich

Aus der Innentasche seines Tweedjacketts holt August sein Zigarettenetui, atmet den Rauch tief ein, trinkt einen Schluck Bärwurz aus dem Flachmann. «Jemand hat die Briefe gefunden. Nur wer?» Seine Oxfordschuhe klackern auf der gepflasterten Strasse, seine Krawatte flattert im Wind. «War es Mutter, ist alles vorbei. Dann werde ich enterbt, fortgejagt, werde mein Leben in der Gosse verbringen müssen.» Schneeflocken legen sich auf seine Schultern und schmelzen innert Sekunden. Die Lampen werfen goldene Lichtkegel auf die Strasse. August huscht darunter vorbei. «Und wenn es Vater war, wird es Mutter früher oder später erfahren.» Der Schnaps brennt sich den Weg durch Augusts Magen, die Dämpfe ziehen den winterlichen Nebel in seinen Kopf. August wird schwindlig. Noch einmal setzt er den Flachmann an. Der Bahnhof ist in Sichtweite.

Lustlos stochert August mit seiner Gabel im Porzellanteller, pickt eine Erbse auf die Zinken und lässt sie in den Kartoffelstock plumpsen.

«August, Ellenbogen vom Tisch», zischt seine Mutter, während sie ihn mit zugekniffenen Augen über die Brillengläser hinweg anschaut. «Du bist unmöglich», stöht Annemarie, «Henrik, tu doch was».

Henrik hebt seinen Blick kurz von den Börsenkursen des Wirtschaftsbundes in der Süddeutschen, richtet seine massive Hornbrille, «Tu was deine Mutter sagt», und versinkt wieder im Studium des Dow Jones.

August richtet sich gemächlich auf, der Abdruck seiner Faust hinterlässt auf der schneeweissen Backe einen fahlen Abdruck.

«Was ist eigentlich los mit dir August? Hast du Schwierigkeiten an der Universität? Dekan Hornbacher weiss nur Gutes von dir zu berichten. Oder wird dir das Ganze zu viel? Bist du am Ende unglücklich verliebt? Sag’, wie heisst denn die Auserwählte? Und was machen ihre Eltern? Du weiss genau, dass ...»

«Mutter, bitte.»

«August, du weisst doch, dass du uns alles erzählen kannst, aber eine Frau von Rang muss es schon sein, dass weisst du doch Aug...»

Augusts Faust knallt auf den Tisch. Gabel und Messer fallen vom Besteckbänklein, Burgunder schwappt aus Kristallgläsern. Augusts Gesicht hat die Farbe seines Faustabdrucks angenommen, er zittert vor Erregung, wie er seine Mutter mit feuerspeienden Augen fixiert.

«August! Henrik, so tu doch was!» Annemarie blickt hilflos zu ihrem Mann, der seinen fleischigen Kopf hinter der Zeitung versteckt. Langsam lässt er sie auf seinen Schoss gleiten, tupft sich die Mundwinkel mit der Serviette ab, «Sachte, August. Sachte. Gretchen, einen Kaffee bitte, zwei Zucker und einen Schuss Milch, nicht umgekehrt wie beim letzten Mal.»

Gretchen löst sich aus ihrer Versteinerung, trägt das Geschirr ab und verlässt den Speisesaal Richtung Küche. August spürt die Spitzen des Tischtuchs unter seinen Knöcheln, abwechselnd blickt er in die aufgerissenen blaugrauen Augen seiner Mutter und die Druckerschwärze der Zeitung, hinter welcher sich sein Vater wieder versteckt hat.

«Ihr könnt mich mal», schreit er und rennt aus dem Speisesaal.

Türen knallen, eine, zwei, Schritte in die andere Richtung, dann die Haustüre.

Annemarie löst sich aus ihrer Starre, blickt ungläubig zu Henrik und fängt zu weinen an. Gretchen betritt den Speisesaal, hält beim Anblick Annemaries kurz inne, stellt die Tasse mit dem lehmbraunen Inhalt vor Henrik und stellt sich hinter ihn, an ihren gewohnten Platz, fünf Fuss von der Stuhllehne entfernt.

«Gretchen, genehmigen Sie sich einen Moment Ruhe», sagt Henrik und während er die Süddeutsche faltet und einen Schluck Kaffee trinkt, schleicht Gretchen aus dem Speisesaal. Henriks Finger hinterlassen schwarze Abdrücke auf der Tasse.

«So hör doch auf zu weinen, Annemarie», während er mit seinen Wurstfingern über die Hand seiner Frau streicht, «behalt doch ein bisschen Contenance. Würdest du dich auch so verhalten, wenn uns der Direktor und seine Gattin ihre Aufwartung machen würden?»

 «Entschuldige Henrik, ich habe die Beherrschung verloren. Aber, was haben wir nur falsch gemacht mit August, dass er sich so unflätig verhält? Jedes Mal, wenn ich etwas über allfällige Liebeleien in Erfahrung bringen möchte, wird er laut und rennt weg. Dabei möchte ich doch nur, dass er endlich ein Fräulein trifft, das unserem Ruf nicht schadet. Von Wolffswinckels Therese ist vielleicht nicht gerade, was man eine Schönheit bezeichnen könnte, aber zumindest ist sie aus gutem Haus und die Vermählung könnte durchaus beiden Familien gewisse Vorteile verschaffen.»

«Annemarie, ich glaube nicht, dass August ein Mädchen möchte»

«Dafür ist es wohl noch viel zu früh, und dann selbstverständlich lieber zuerst einen Jungen, dein Name muss schliesslich weitergetragen werden. Bosch und Töchter? Das ginge doch nicht!»

«Hör mir zu Annemarie.» Henrik greift in die Innentasche seines Anzugjacketts und holt einen Bund Briefe hervor. «Die habe ich in Augusts Sporttasche gefunden, zwischen den Boxhandschuhen, als ich sie selbst mal wieder anziehen wollte. Weisst du noch, wie ich meine Gegner früher reihenweise auf die Bretter geschickt habe, Annemarie? Als ich noch schlank und rank war, der Bauch hart wie eine Ziegelwand und mein rechter Haken gefürchtet vom Bayern bis Hamburg? Henrik der Hammer, haben sie mich genannt, gute Zeiten waren das, schöne Zeiten, mit Uppercut-Uwe und dem filigranen Jürgen, der tänzelte immer um den Gegner, dass denen nur so schwindlig wurde. Das war toll, das war ...»

«Henrik, was sind das für Briefe?» Annemaries Stimme zittert, ihr Blick bohrt sich in Henriks Augen.

«Ach, die Briefe, ja, also die Briefe, weisst du, die habe ich ja in seinem Sportsack gefunden. Den Sportsack, den wir ihm kauften, als wir vorletztes Jahr mit ihm nach England reisten, Fussball wollte er schauen der Bengel, dann sind wir halt ins Wembley-Stadion und haben gesehen, wie die Engländer Weltmeister wurden. Oder war das noch ein Jahr fr...»

«Henrik! Her damit» Annemarie greift nach den Briefen, entreisst Henrik ein halbes Dutzend und setzt sich zurück auf den schweren gepolsterten Stuhl. Sie überfliegt die Zeilen des ersten Briefes, schluckt leer, blickt abwechselnd auf die fein geschwungenen Worte und hinauf zum hölzernen Erlöser. Der zweite Brief, die ersten Tränen. Der dritte, Annemarie sackt zusammen. Der vierte, der fünfte, der sechste und immer wieder «Mein allerliebster August», gezeichnet: «Lassen wir uns diese unendliche Liebe nicht verbieten, kämpfen wir dafür. Dein Hugo.»

«Henrik, was sind das für Briefe?» Annemaries Stimme versagt auf der letzten Silbe. Sie blickt zum Kruzifix an der Wand hinter Henrik, holt tief Luft. «Unser August. Er wird doch nicht ... krank sein?»

«Ach, wo denkst du denn hin Mariechen!», Henrik lacht nervös. «Da werden sich August und dieser Hugo wohl einen Jux ausgedacht haben.»

Im Speisesaal ist es so ruhig, dass Gretchen durch die verschlossene Türe das Rascheln der Papierbögen vernehmen kann. «Was wohl vorgefallen sein mag», flüstert sich Gretchen zu, «erst stürmt August aus dem Haus und dann ist es zum Kaffee mucksmäuschenstill, obwohl der Herr doch sonst zu diesem Zeitpunkt in Form aufläuft und die feine Runde unterhält.»

Wie durch verregnete Fensterscheiben blickt Annemarie zu Henrik. Sieht, dass auch seine Augen und Backen feucht sind. Verloren und schweigend blicken sie sich an.

«Wir müssen etwas tun Henrik. Es kann doch nicht sein, dass unser August ... krank ist? Unser Sohn?» Hilfesuchend blickt sie zum Kruzifix, als ob die hölzerne Schnitzerei ihr in diesem Moment Hilfe bieten könnte. Oder zumindest eine Antwort.

«Gretchen, die Schatten ihrer Füsse unter dem Türspalt verraten Sie. Wenn Sie schon da sind, bringen Sie uns doch bitte einen Papierbogen und Henriks Schreibfeder.» Annemaries laute Bitte erschreckt Gretchen, dass sie mit einem dumpfen Knall gegen die Tür fällt und Lava in ihren Venen verspürt. «Kommt sofort» sagt sie und läuft hastig in Henriks Büro, packt vom massiven Holztisch einen Bogen Schreibpapier, Feder und Tinte, läuft zurück und öffnet die Türe zum Speisesaal. «Bitte entschuldigen der Herr und die Dame meine Neugier», sie legt die Schreibutensilien ab, verlässt den Speisesaal wieder und läuft mit lauten Schritten in die Küche.

«Was hast du nun vor, Annemarie?» Henrik hat sich wieder gefasst, seine Stimme hat die von Annemarie kurz vermisste Autorität und Imposanz zurückgewonnen. «Unser Sohn kann nicht ... krank ... sein.» Annemarie spuckt dieses Wort aus, als habe sie Galle auf der Zunge. «Wir haben einen Ruf, unsere Familie geniesst Ansehen. Ich lasse es nicht zu, dass August all dies ruiniert, nur weil er und ... Hugo diese Beziehung, nein: Abnormität! ausleben wollen. Schreib, ich diktiere.»

Als ob seine Finger mit Blei gefüllt wären, greift Henrik zur Feder, öffnet das Tintenfass und taucht die goldene Spitze in die dunkle Brühe. «Ich höre.»

«Bildhübsches Mädchen aus gutem Haus gesucht. Absatz. die herzlich Komma ehrlich und humorvoll ist und mehr im Hirn hat Komma als nur Partys und Einkaufen Punkt Sie sollte unserem Sohn Komma einem feinen Komma reifen Komma wohlhabenden jungen Mann Komma 20 in Zahlen Jott Punkt Komma Abstand sehr attraktiv, nein schreibe nur a-t-t-r-Punkt, Zeitungsinserate kosten ja heute die Hölle».

«Was, das soll ich auch schreiben?»

«Nein! Wo denkst du denn hin? Also, a-t-t-r-Punkt Komma humorvoll Komma selbstsicher Komma»

«Selbstsicher?»

«August wird seine Schwächen haben, aber wir müssen ihn gut verkaufen, vielleicht besser als er in Wirklichkeit ist. Hauptsache, ein hübsches Mädel wird seine Gattin. Und das lieber heute als Morgen! Also weiter: Selbstsicher Komma Top Bindestrich Athlet Komma Nichtraucher und Nichttrinker. Nein, warte, schreib lieber in Grossbuchstaben N-R u Punkt N-T Komma, das braucht weniger Zeichen, schreib: clever Komma eine liebe Partnerin sein. Lies mir den Text einmal vor, bitte.»

«Bildhübsches Mädchen aus gutem Haus gesucht die herzlich, ehrlich und humorvoll ist und mehr im Hirn hat als nur Partys und Einkaufen.

«Scheib shoppen, das klinkt moderner.»

«Schoppen?»

«Henrik! Englisch für Einkaufen: S-H-O-P-P-E-N! Also bitte, wer hat denn von uns beiden mit Geschäftsmännern aus England zu tun?»

«Ist ja gut. Also: Bildhübsches Mädchen aus gutem Haus gesucht die herzlich, ehrlich und humorvoll ist und mehr im Hirn hat als nur Partys und shoppen. Sie sollte unserem Sohn, einem feinen, reifen, jungen Mann, 20 J. sehr attr., humorvoll, selbstsicher, Athlet, NR u. NT, clever, eine liebe Partnerin sein.»

«Schreib noch wohlhabend! Das ist wichtig. August ist zwar ein hübscher Junge, aber ein finanzieller Anreiz wird selbst die letzte Kritikerin über seinen leicht schielenden Blick hinwegsehen lassen.»

«Und wohin damit?»

«Vor jungen Mann.»

«Gut, sonst noch was?»

«Schreib Top-Athlet. T-O-P-Bindestrich-Athlet. Regionalmeister im Federgewicht. Das wird wohl ausreichen für einen Top-Athleten, was meinst du Henrik? So sag doch was!»

«Annemarie, meine Liebste. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist mit der Kontaktanzeige. Meinst du nicht, wir sollten ihn zumindest erst fragen?»

«Ach was. Es ist schliesslich zu seinem Wohl. Lies noch einmal vor.»

«Wenn du meinst.» Henrik seufzt. «Bildhübsches Mädchen aus gutem Haus gesucht die herzlich, ehrlich und humorvoll ist und mehr im Hirn hat als nur Partys und shoppen. Sie sollte unserem Sohn, einem feinen, reifen, wohlhabenden jungen Mann, 20 J. sehr attr., humorvoll, selbstsicher, Top-Athlet, NR u. NT, clever, eine liebe Partnerin sein.»

«Perfekt! Gretchen!» Annemaries Stimme überschlägt sich vor Freude über ihren genialen Einfall. Gretchen klopft behutsam an die Tür, als wäre sie eine Eierschale, und öffnet sie.

«Bitte?»

«Gretchen. Henrik wird Ihnen einen Brief aushändigen. Den bringen Sie unverzüglich auf die Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Aber seien Sie diskret, niemand soll Sie sehen. Ich gebe Ihnen zehn Mark mit, das sollte ausreichen für eine Kontaktanzeige. Und sagen Sie dem Herrn Redaktor, dass die Anzeige bereits in der morgigen Ausgabe erscheinen muss. Haben Sie das verstanden Gretchen?»

«Jawohl, gnädige Frau. Ich mache mich gleich auf den Weg.» Gretchen nimmt den Briefumschlag, den Henrik ihr entgegenstreckt und verlässt das Haus.

«Eine gute Idee war das, nicht?»

«Wenn du meinst, Annemarie.» Henrik packt die Briefe wieder zusammen und steckt sie ins Jackett. Dann greift er wieder zur Zeitung und baut sie wie eine Mauer zwischen sich und seiner Frau auf. «Wenn das nur gut geht», flüstert er, «wenn das nur gut geht.»

August hat die Schottersteine erreicht. Noch einmal setzt er den Flachmann an. Bärwurz gegen die eisige Kälte. Er hat die Kurve erreicht, die der 18:17-Zug Richtung Augsburg in weniger als drei Minuten erreichen wird. Er zieht noch einmal an der Zigarette, verbrennt sich die Fingerkuppen, «verdammt», setzt den Flachmann noch einmal an, statt der Wärme erreichen ihn nur drei kalte Tropfen. Mit blechernem Geräusch landet der Flachmann auf dem geteerten Holz der Bahnschwelle. Dann legt er sich hin.


Dieser Text ist im Rahmen eines Schreibkurses am MAZ – Die Schweizer Journalistenschule entstanden. Die Vorgabe war simpel: Die im Titelbild gezeigte Zeitungsannonce zum Thema einer kurzen Erzählung machen.

Sport ist Mord


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