«Es war Krieg!»
Während acht Monaten war ein Pager am Hosenbund Isidor Elsigs ständiger Begleiter. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Fing er an zu piepsen, musste es schnell gehen. Denn ein Piepsen bedeutete: Eine Leber ist da.
An einem warmen Junitag 2013 erhielt Isidor Elsig die Diagnose, die es ihm eiskalt den Rücken hinunterlaufen liess: Hepatozelluläres Karzinom (HCC). Leberzellkrebs. Eine Diagnose, die er aufgrund einer vorrangig bei ihm diagnostizierten Leberzirrhose – die für 80 Prozent der HCC verantwortlich ist – erwartet hatte. Erwartet, und dennoch gefürchtet. Denn Leberzellkrebs nimmt von allen Tumoren am raschesten zu und ist die dritthäufigste tumorbedingte Todesursache.
Mit 51 Jahren hatte Elsig seine Anteile an der auf den Vertrieb von Glasverpackungen spezialisierten Firma Univerre verkauft. Zwei Jahre später drängten sich ihm trotz der erwartbaren Wendung seines Krankheitsverlaufs zwei Fragen auf: «Wieso ich?» und «Wie geht es weiter?» Auf die erste Frage gebe es keine Antwort, auf die zweite nur eine Kampfansage. «Es war Krieg», erinnert sich Elsig Ende März in seinem Arbeitszimmer in Grimisuat an den Tag vor bald sechs Jahren zurück. Und trotzdem: «Ich habe alles infrage gestellt.» Sein Umfeld informierte Elsig zeitnah über die Diagnose. «Alle wussten, dass ich Krebs habe. Ausser meine Kinder», sagt Elsig, «sie wussten nur, dass ich eine neue Leber brauche.» Er habe seine Töchter nicht unnötig belasten wollen.
Sein Arzt klärte ihn umgehend über die Möglichkeiten auf, deren es nicht viele gab. «Mein Ziel war von Anfang an eine neue Leber, alles andere ist Garnitur.» Elsig klopft mit den Knöcheln auf die Tischplatte, um dem Gesagten mehr Gewicht zu verleihen. «Verschteisch?»
Glück im Unglück
Eine andere Wahl blieb dem gebürtigen Oberwalliser nicht: Bei Leberzellkrebs verspricht nur eine Transplantation vollständige Genesung. Zuerst wurde Elsig intern bestrahlt, «über die Leiste direkt auf die Leber», sagt er. Eigentlich eine palliative Massnahme, erklärt Dr. Carlo Valli, Facharzt für Gastroenterologie, die wie bei Elsig auch zur Überbrückung der Wartezeit auf der Transplantationsliste angewendet wird. Einer Wartezeit von schliesslich acht Monaten.
Auf die Warteliste kommt ein Patient nur, wenn ein Team eines der schweizweit einzigen Transplantationszentren für die Leber – das Berner Insel, das Genfer oder das Zürcher Universitätsspital – nach Vorabklärungen grünes Licht gibt. Dazu gehören bei einer Lebertransplantation Chirurgen, Gastroenterologen (Verdauungssystem), Hepatologen (Leber), Radiologen, Infektiologen und Anästhesiologen, sagt Valli. Für eine Transplantation bei Leberzelltumoren müssten zudem die sogenannten Milano-Kriterien erfüllt sein, führt Valli weiter aus: ein Tumor bis maximal fünf Zentimeter oder drei Tumoren jeder kleiner als drei Zentimeter gross, die weder in die Pfortader, die der Leber Blut zuführt, eingewachsen sind, noch Metastasen oder befallene Lymphknoten aufweisen.
Elsig hatte Glück im Unglück. Er erfüllte den Kriterienkatalog und kam innerhalb eines Monats auf die Warteliste.
Das ethische Fragezeichen
«Sobald ein Organ bereitliegt, herrscht extremer Zeitdruck», sagt Valli. Zurückrufen und innert kürzester Zeit ins Berner Insel fahren. Im zentralen Register der Personen, die auf ein Organ warten, sind die Eigenschaften des Empfängers gespeichert und werden mit denen des Spenders abgeglichen. Stimmen die Eigenschaften – bei der Lebertransplantation vornehmlich die Blutgruppe – überein, kann sie transplantiert werden.
Grundsätzlich werden aufgrund der emotionalen Belastung nicht mehrere Personen ins Spital gerufen, sobald ein Organ verfügbar ist. Anders bei Elsig. Bis zur Operation brauchte es schliesslich drei Piepser vom Pager an seinem Hosenbund. Zwei Mal war er im Insel, ohne dass ihm eine Leber transplantiert werden konnte. Frustriert habe ihn das nicht: «Dann bin ich halt der Nächste!» Und die Freude, auf der Liste aufgerückt zu sein, habe überwogen. «Heute, übermorgen, in einer Woche, zwei oder fünf bin ich dran. Das war erlösend.» Er klopft auf den Tisch. «Verschteisch?»
Bis Elsigs Pager am 28. Februar 2014 zum dritten und letzten Mal piepste, vergingen etwas mehr als acht Monate seit der Eintragung auf die Warteliste. Damit lag er gemäss Zahlen der Schweizerischen Stiftung für Organspende und Transplantation Swisstransplant im Jahr 2014 im schweizweiten Schnitt. Seither hat die Wartezeit kurzfristig um wenige Tage abgenommen, steigt seit 2016 aber stetig. Im Jahr 2017 war die Wartezeit für eine Leber schon bei rund zehn Monaten. Zum Vergleich: Auf ein Herz mussten Personen mehr als elf Monate warten, auf eine Lunge knapp vier Monate und auf Nieren fast vier Jahre.
Damit Elsig eine Leber bekam, starb jemand – und rettete mit der Organspende Elsigs Leben. Ein nicht ganz banales ethisches Fragezeichen. «Da die Person, deren Leber ich erhalten habe, für hirntot erklärt wurde, wäre das Organ verbrannt oder beerdigt worden», sagt Elsig. Ein Kreislauf, den er selbst fortzuführen gedenkt. «Ich hoffe, dass durch meinen Tod auch Menschen weiterleben werden können, dann gibt es eine Kette. Nehmen und geben. Und wenn ich das Doppelte weitergeben kann, tant mieux!»
Elsig wurde erst durch sein eigenes Erlebnis sensibilisiert. Noch vor der Transplantation hat er sich als Organspender eintragen lassen. «Organe zu spenden ist die vielleicht einzige gute Sache, die wir in unserem Leben machen können. Man kann der falscheste Hund sein und verlogen, aber wenn man Organe spendet, hat man letztendlich doch noch etwas Gutes getan.»
Dennoch hält Elsig an der persönlichen Entscheidungsfreiheit fest, was die Organspende anbelangt. «Wer aus religiösen oder anderen Gründen nicht Organspender sein möchte, soll Nein sagen dürfen. Das ist eine sehr persönliche Frage, die jede Person mit sich ausmachen muss.»
«Das neue Wunder von Bern»
Zwölf Stunden dauerte Elsigs Operation am 28. Februar 2014. Aus chirurgischer Sicht ist die Lebertransplantation die schwierigste Organtransplantation. «Danach war ich zwei oder drei Tage im Schwebezustand», sagt Elsig, «aber das wusste ich von Anfang an, darauf kann man sich einstellen.»
Sein Körper nahm die neue Leber auf, Komplikationen gab es aber mit den Nieren, die anfangs nicht funktionierten. «Da hatte ich schon Schiss», sagt Elsig, «jetzt haben sie alles gemacht, um mich gesund zu pflegen, und jetzt soll es an den Nieren scheitern?» Nach der Operation erzählte er seinen erwachsenen Töchtern den Grund für seinen Spitalaufenthalt. «Sie haben meinen Entscheid, es nicht von Beginn weg zu sagen, verstanden», sagt Elsig. Trotzdem flossen Tränen. Vor allem solche der Erleichterung.
Sieben Tage nach der Transplantation hätte Elsig das Spital bereits verlassen dürfen. Er traute sich nicht, fühlte sich nicht wohl dabei. Drei Tage später war es so weit. «‹Ein neues Wunder von Bern› nannten sie mich, weil es ansonsten bis zu zwanzig Tagen dauern kann.» Bis zu 45 Pillen pro Tag waren die kurzfristige Konsequenz. Für den Magen, gegen Diabetes. Primär aber um sein Immunsystem herunterzufahren. Die Suppression dient dazu, dass der Körper nicht merkt, dass ein fremdes Organ da ist. «Wenn er das merkt, stösst er die Leber ab», sagt Elsig. Andererseits heisst das auch, dass Elsigs Körper extrem allfällig auf Infektionen aller Art geworden ist. «Alle um mich herum sind ab und zu mal krank, aber ich bin nie krank. Das ist wieder so ein Wunder», sagt Elsig.
Heute braucht er täglich noch 32 Pillen und kann wieder ein normales Leben führen. Bis auf die zwei, drei Stunden nachmittags, in denen er sich erschöpft hinlegen muss. Und die Narbe. Elsig erhebt sich aus seinem Stuhl und knöpft sein schwarzes Hemd auf. Eine rund vierzig Zentimeter lange Narbe zieht sich oberhalb des Nabels über den ganzen Bauch. Elsig lebt mittlerweile bewusster – und verdankt dies seiner Krankheit: «Nicht, dass ich froh gewesen wäre, dass ich Krebs hatte. Aber retrospektiv hat mein Leben dadurch einen ganz anderen Wert erhalten.» Elsig klopft mit den Knöcheln auf den Tisch. «Verschteisch?»
Dieses Porträt erschien erstmals am 4. April 2019 im Walliser Bote.