Männer dominieren die Festivalbühnen
Im Programm von Musikfestivals finden sich kaum Frauen, wie eine eigene Auswertung zeigt. Braucht es eine Quote?
Die Festival-Saison ist in vollem Gange, die Besucherränge sind gut besetzt, und auf den Bühnen stehen Weltstars oder Newcomer. Nur Frauen sieht man erstaunlich selten. Tippt man bei Google das Stichwort «Frauen auf Festivalbühnen» ein, erhält man den Vorschlag «Frauen auf Festivals abschleppen».
Eine Auswertung von sechs Schweizer Festivals zeigt, dass die Bühnen überaus stark männerdominiert sind. Am wenigsten Frauen weist diesen Sommer das Openair Frauenfeld auf, das heute begonnen hat. Mit SXTN, Ace Tee, Haiyti und Lady Leshurr werden nur vier Formationen mit Rapperinnen die Bühnen betreten – von 51 auftretenden Künstlern. Zumindest handelt es sich bei allen von ihnen um Frontfrauen.
Der Teufelskreis bei den Rapperinnen
Andrej Malogajski, einem der Programmmacher des Festivals, ist dies ein Dorn im Auge. Auf seiner Wunschliste stehen deutlich mehr Rapperinnen: «Doch ob es letztlich klappt, hängt von vielen Faktoren ab, etwa den Tourneeplänen der Künstlerinnen und anderen Konzertangeboten.» Zudem sei in der stark männerdominierten Rapszene der Nachwuchs rar.
Ein Teufelskreis: Ohne Rapperinnen auf der Bühne haben junge Frauen keine Vorbilder, denen sie nacheifern und deren Platz sie eines Tages übernehmen könnten. An weiblichen Besucherinnen fehlt es am Openair Frauenfeld jedenfalls nicht: «Das Publikum ist sehr gemischt», sagt Malogajski.
Die grossen Festivals tun sich schwer, ...
Nur wenig besser präsentiert sich das Greenfield Festival in Interlaken. 53 Bands spielten dort Anfang Juni, nur fünf von ihnen mit einer Frau. Darunter war Laura Jane Grace, die Frontsängerin und Gitarristin der Band «Against Me!», die 1980 als Thomas James Gabel auf die Welt kam.
Auch das grösste Openair Festival der Schweiz, das Paléo Festival im waadtländischen Nyon mit über 200 000 Besuchern, sieht in der Beziehung nicht gut aus. Mehr als 90 Bands – aber nur 20, in der Frauen vertreten sind.
Woran liegt das? Grössere Festivals, sagt Andrej Malogajski, müssten den Erwartungen ihrer Besucher gerecht werden. Die wollten «bekannte Künstler und ihre Idole aus den USA, Grossbritannien oder Deutschland sehen und eher weniger durch Unbekanntes überrascht zu werden». Das Programm sei auch immer ein «Wunsch-Line-Up im Rahmen der Möglichkeiten», da nicht jeder Künstler die Anfrage annehmen kann.
... die kleineren Festivals sind aber umso offener
Eine gewisse Narrenfreiheit in der Programmwahl bleibe nur kleineren Festivals, sagt Regula Frei vom Verein «Helvetia rockt». Die kleine, aber in Insiderkreisen als bestes schweizerisches Festival geltende Bad Bonn Kilbi im freiburgischen Düdingen (2'400 Zuschauer pro Tag) etwa könne ihr Programm hauptsächlich aus unbekannten Bands und Neuentdeckungen zusammenstellen, sagt sie.
Aus der Not macht sie eine Tugend: Denn laut Urs Leierer, Festivaldirektor des Blue Balls Festival in Luzern, habe eine Bad Bonn Kilbi gar keine andere Wahl mehr, die Gagen prominenter Künstler seien durch die hohe Festivaldichte in der Schweiz in astronomische Höhen gestiegen. Auch Leierer könne sich als Festivaldirektor nicht mehr alle Wunschbands leisten.
Je tiefer man grabe, desto häufiger finde man Frauen
Daniel «Duex» Fontana, Programmleiter der Bad Bonn Kilbi, bestätigt, dass die Gagen gestiegen seien, auch für weniger bekannte Künstler: «Doch da sehe ich noch eher einen Sinn, denn bei Neuentdeckungen ist es nicht nur eine Gage, sondern eine Investition in die Karriere.» Ab und zu gelingen ihm «grosse Glücksgriffe aus der Tiefe», wobei gross kein Synonym von teuer sein muss. So standen bereits Kamasi Washington, die Flaming Lips und Aphex Twin auf seiner Bühne. Beim Programmieren achte er nicht speziell auf Quoten, wohl aber auf das Gleichgewicht – zwischen Männern und Frauen ebenso wie zwischen in- und ausländischen Künstlern.
Das Vertrauen des Publikums habe sich die Kilbi als unabhängiges kleines Festival hart erarbeitet. Doch Fontana kann sich seine Art Programm auch in grösserem Rahmen in der Schweiz vorstellen: «Das Fusion Festival in Deutschland schafft es ja auch, 70 000 Leute ohne richtigen Headliner anzuziehen.» Er sei ein Frühbucher, sagt Fontana, damit könne sein Programm jedoch individueller gestalten. Die gute Frauenquote an seinem Festival erklärt er sich folgendermassen: «Je tiefer man nach Musik gräbt – vor allem in der experimentellen Musik –, desto häufiger trifft man auf Frauen. Und wir sind gezwungen, tiefer zu graben und Überraschungen zu präsentieren.» So kommt die Kilbi Bad Bonn auf einen Frauenanteil von 38,6 Prozent. Das ist Rekord.
Zwischen Stutz und Entdeckungsfreude
Auch das Blue Balls kommt auf einen Frauenanteil von fast vierzig Prozent, das Live at Sunset in Zürich, das diese Woche beginnt, auf ein gutes Drittel. Festivals, die sich in punkto Zuschauerzahlen im fünf- bis tiefen sechsstelligen Bereich bewegen, können eine grössere Diversität bieten, was offenbar auch den weiblichen Künstlern zugute kommt. Gezielte Frauenförderung wird aber nicht betrieben: «Unser Kriterium bei der Kuratierung des Programms ist einzig und allein die Musik», sagt Urs Leierer. Ob sie von einem Mann oder von einer Frau gespielt werde, sei für ihn sekundär, so Leierer.
Der Verein «Helvetia rockt» setzt sich dafür ein, dass es «normal ist, wenn eine Frau im Jazz, Pop oder Rock tätig ist.» Und «normal» können sie beziffern: Sie streben einen Frauenanteil von dreissig Prozent auf Festivals an, sagt Regula Frei, die Geschäftsstellenleiterin des Vereins. Eine Zahl, die nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern in der Minderheitenforschung wissenschaftlich belegt wurde. «Ab einem Anteil von dreissig Prozent wird eine Gruppe nicht mehr als Minderheit wahrgenommen», sagt Frei. Dieser Anteil sollte nicht nur auf den Bühnen durchgesetzt werden, sondern auch dahinter – bei Musikproduzentinnen, Tontechnikerinnen oder in den Gremien.
Regula Frei fordert von Programmmachern allgemein mehr Mut. «Man kann auch einmal eine Newcomerin mutig platzieren», sagt sie. Es liege an der Einstellung der Booker, dass zuwenig Frauen auf den Bühnen der Festivals stehen, auch wenn sie zustimmt, dass Frauen beispielsweise in Musikrichtungen wie Rap und Metal weniger gut akzeptiert werden. «Es ist letztlich eine Entscheidung zwischen Stutz und Entdeckungsfreude, zwischen Pragmatismus und Passion», sagt Frei.
Dieser Text erschien erstmals am 7. Juli 2017 im Tages-Anzeiger.