«Du bist auf dem neuesten Stand»
Gedanken aus Gampel. Nebst Musik, Tanz und Rausch ist das Open Air Gampel vor allem wieder eines: Nährboden für die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken.
Zum Wandel mit der Digitalisierung. Oder wie man in den Massen verschwindet.
Wir schauen zu oft auf unser Smartphone. Dessen sind wir uns bewusst, machen aber trotzdem fröhlich weiter. Fakt ist, dass ein Smartphone-Nutzer sein Gerät bis zu 90 Mal täglich in die Hand nimmt – oder rund alle zehn Minuten. Knapp zwei Drittel der Aufmerksamkeit, die wir dem Smartphone schenken, sind «sinnvoll»: Wir surfen, chatten, nutzen Apps gezielt. Über dreissig Mal aber lesen wir vermeintlich die Uhrzeit ab oder überprüfen, ob eine neue Nachricht angekommen ist. Nur um den Blick wieder enttäuscht vom Bildschirm abzuwenden.
Auch am Open Air werden wieder Smartphones gezückt: eine Textnachricht an den Kollegen, um in der Unübersichtlichkeit einen Treffpunkt abzumachen. Ein kurzer Anruf zu Hause, um der Familie zu versichern, dass man das viertägige Fest überlebt. Aber auch: Ein Update auf Facebook hier, ein Selfie oder kurzes Video für Instagram da.
Wo früher Feuerzeuge in die Luft gehalten wurden, sind es heute die Taschenlampen der Smartphones. War man zuweilen stolz, ein Bild von sich in der lokalen Zeitung zu sehen, findet man sich heute nach vier Tagen Exzess mit Hunderten Bildern auf dem Smartphone wieder, deren Minderheit die Verbreitung in der digitalen Welt gefunden hat. Die Mehrheit ist nach wenigen Wochen bereits wieder passé und verschwindet in den Untiefen des persönlichen Archivs.
Woher kommt dieser Drang, das Smartphone dauernd in die Hand zu nehmen? Die Erklärung ist in unserem Gehirn zu finden: Signale auf unserem Smartphone kündigen den Eingang einer Nachricht an. Dabei wird im Gehirn ein Stimulus gesetzt, der Erwartungen weckt. Durch die wiederholte Nutzung einer App wurden wir auf diese Haltung konditioniert. Diese Erwartung aktiviert eine Gehirnstruktur, die Teil des körpereigenen Belohnungs- und Lustzentrums ist. Unter anderem setzt es den Botenstoff Dopamin frei, der Glücksgefühle hervorruft.
Stossen wir beim Blick auf das Smartphone tatsächlich auf eine Nachricht, stimmt uns dies glücklich. Andernfalls nimmt die Dopaminausschüttung ab – und mit ihr das Glücksgefühl. Und: Sobald wir das Telefon aus der Hand legen, beginnt das Gehirn mit der Produktion des Stresshormons Cortisol. Ein Paradox: Wir entsperren das Gerät, um Stress abzubauen. Stress, den wir ohne das Gerät notabene nicht hätten.
Dieser perfide Mechanismus macht uns abhängig vom Smartphone. Die App-Industrie nimmt dies nicht nur in Kauf, es wird gewollt darauf hingearbeitet. «Auf der anderen Seite des Bildschirms sitzt ein Heer von Programmierern, deren Aufgabe darin besteht, die Selbstdisziplin der Nutzer zu untergraben», sagte Aza Raskin kürzlich gegenüber der NZZ am Sonntag. Lange Jahre war er selbst einer dieser Programmierer. Raskin haben wir es zu verdanken, dass unsere Scrollbewegungen endlos geworden sind: Der «Infinite Scroll», die Funktion, dass auf einer Website automatisch neue Inhalte erscheinen, sobald man am vermeintlichen Ende angekommen ist, war seine Idee.
Scheinheilig und als Imagepflege der Unternehmen entlarvt ist daher der Versuch sozialer Netzwerke, den Nutzer vor sich selbst zu schützen: Auf Instagram erscheint eine Nachricht («Du bist auf dem neuesten Stand»), sobald der Nutzer alle Beiträge der letzten Tage gesehen hat. Und mit dem neuesten Update will Instagram dem Nutzer zumindest eine Hilfe zur Kontrolle über die ver(sch)wendete Zeit zurückgeben: Es zeigt an, wie lange die App benutzt wurde und automatische Erinnerungen teilen mit, wann das persönlich definierte Zeitlimit erreicht ist. Denn: «Deine Zeit auf Instagram sollte positiv, bewusst und inspirierend sein», hält Instagram fest.
Beängstigend ist das Resultat einer Umfrage, die aufzeigt, dass junge Nutzer die Qualität ihrer analogen Freundschaften anhand der Aktivitäten im Netz bewerten. Snapchat macht digitale Freundschaften messbar, indem Symbole die Kommunikationsfrequenz zweier Nutzer untereinander bebildern: Ein Herz zeigt an, welche Nutzer untereinander am meisten Bilder verschicken. Eine Flamme bezeugt, dass der Austausch täglich stattfindet. Die App formt bei jungen Menschen also nicht nur die Kommunikation, sondern auch deren Wertesystem mit.
Sich selbst zum Thema zu machen, sei keineswegs ein neues Phänomen, sagt die Soziologin Sarah Mönkeberg. Es sei nicht dem Internet vorbehalten und kam auch nicht erst mit dessen Entstehung auf. Die medialen Selbstdarstellungen liessen sich als Erste klar als Strategien deuten, Feedback zum eigenen Identitätsentwurf zu erhalten. Dazu gelte es erst, die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken. Die Angst, stillschweigend in der digitalen Welt zu verschwinden, könnte zur Erklärung der vielfältigen und bisweilen eigenwilligen Inszenierung zur Aufmerksamkeitserregung beitragen, sagt Mönkeberg weiter. Dabei geht sie davon aus, dass der Hang zur Darstellung aus einer Furcht vor Unsichtbarkeit resultiere.
Werden deshalb täglich rund eine Million Selfies geknipst? Diese inszenierte Natürlichkeit macht heute rund 30 Prozent aller Bilder von 18- bis 24-Jährigen aus. Das Selfie, das einen hoch fabrizierten Zugang zum Leben des Nutzers ermöglicht, ist die Demokratisierung des Bildes. Jeder und jede teilt mit seinen Freunden, Abonnenten und Followern nur noch, was ihn im besten Licht seiner selbst erscheinen lässt. Dies verändert die Erwartungshaltung seiner Umwelt, aber auch jene sich selbst gegenüber. So ist es nicht erstaunlich, dass junge Erwachsene nicht mehr mit dem Bild eines Stars beim plastischen Chirurgen anklopfen, sondern mit einem Bild ihrer selbst, verändert durch einen der unzähligen Fotofilter einer App.
Soziale Netzwerke werden auf Hochglanz poliert. Da erschüttert es auch nicht mehr, wenn einem das Abo zum Instagram-Account eines Bekannten mit der Begründung verwehrt wird, dass der Kanal noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich sei, da momentan zu wenig und vor allem zu wenig gutes Bildmaterial darauf vorhanden sei.
Die Schwemme des Bild- und Videomaterials vom Open Air Gampel wird wohl wieder gigantisch sein. Ob dies der Identitätsstiftung dient oder der Selbstinszenierung, ist dabei wohl zweitrangig. Solange es nicht zu einem Selfie-bedingten Todesfall kommt – etwa durch Sturz oder Unfall – sollte dies aber nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen.
Dieser Artikel erschien im Rahmen des Open Air Gampel erstmals am 16. August 2018 im Walliser Bote.