Wirtschafts-«Villa Kunterbunt»
Keine Kurspläne, keine Prüfungen: Der Traum eines jeden Studierenden scheint an der Team Academy in Erfüllung zu gehen. So verführerisch es klingen mag, geschenkt wird den Studierenden nichts.
Für einen Bachelor im klassischen Sinn legen Studierende Prüfungen ab, besuchen Seminare, schreiben Arbeiten. An der Team Academy in Siders fällt alles weg: keine Kurspläne, keine Vorlesungen, keine Prüfungen. Macht also jeder während drei Jahren, was er will, und erhält danach den Bachelor in Betriebsökonomie? Wer erstmals von der Team Academy hört, wird unweigerlich an Pippi Langstrumpf denken müssen: «Ich mach mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt», singt diese im Kinderfilm von 1969. La belle vie? Schön wärs!
Die vermeintliche Villa Kunterbunt, das «maison de l’entrepreneuriat» am nördlichen Rottenufer bei Siders, ist das ehemalige Foyer von Alusuisse. Von 1919 bis 2008 diente der imposante Steinbau mit der von vier Säulen flankierten Eingangstür und den dunkelblauen Fensterläden den Arbeitern im Aluminiumwerk als Gaststube und Vergnügungsort – inklusive Bad, Kegelbahn und Theatersaal –, dem Verwaltungsrat als Sitzungszimmer.
Theorie in den«Coaching Sessions»
Fast hundert Jahre nach den Arbeitern des Aluminiumwerkes gehen die Brüder Robin und Hannes Cina hier täglich ein und aus. Nach unterschiedlichen Laufbahnen entschieden sich die beiden 2017 gemeinsam für den neu geschaffenen Studiengang in Betriebsökonomie an der HES-SO in Siders. Robin, 24, dunkle Flanellhose, beiger Trenchcoat mit aufgestelltem Kragen und akkurat gestutztem Dreitagebart und sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Hannes könnten glatt als Zwillinge durchgehen. Einzig die Brille auf Robins Nase unterscheidet die beiden. Das finnische Ausbildungskonzept, dessen Fokus auf selbstständiger Arbeit und regem Austausch basiert, faszinierte die beiden. «Hier haben wir das gefunden, was uns passt. Ich glaube nicht, dass wir in eine klassische Ausbildung zurückkönnten», sagt Hannes. Robin nickt bestätigend.
Während der Stundenplan in einem klassischen Studium dicht gefüllt ist, kennen Robin und Hannes nur zwei fixe Termine während der Woche. Der Dienstag- und Freitagmorgen sind jeweils für «Coaching Sessions» reserviert, das Treffen in der ehemaligen Kegelbahn des Foyers mit allen 14 Teilnehmern, in welchem das Gelernte auf Französisch und Englisch diskutiert und vertieft wird. Der Austausch steht dabei im Vordergrund, Projekte und Bücher werden vorgestellt. In der Wahl der Bücher sind die Studierenden grundsätzlich frei, «es sollte aber eine der 21 Kompetenzen weiterentwickeln und wird erst von uns abgesegnet», sagt Jean-Charles Rey, einer der beiden Coaches.
In der ehemaligen Kegelbahn stehen die spinatgrünen Loungesessel im Halbkreis, vor der Fensterfront fahren regelmässig Rangierzüge hin und her. Die weissen Wände sind vollgekritzelt mit Konzepten, Zeichnungen, Mindmaps – natürlich alles abwischbar. Der ganze Raum als ein einziges Whiteboard.
Fünf festgelegte Rollen geben der Unterrichtseinheit einen Rahmen: Der Leiter führt durch die Session und achtet peinlich auf die Einhaltung des festgelegten Zeitplans. Ein anderer sorgt für die aktive Teilnahme aller. «Nicht, dass es zu einem Streitgespräch mit zwei Teilnehmern ausartet», sagt Hannes Cina. Neben dem Leiter und dem Moderator ist jeweils ein Studierender für das Protokoll der «Coaching Session» verantwortlich, ein anderer für die Visualisierung des Besprochenen an der zum Whiteboard umfunktionierten Wand. Um Ablenkung bestmöglich zu verhindern, darf nur ein Studierender einen Laptop benutzen. Seine Rolle ist es, den Unterricht mit Inputs aus dem Internet zu bereichern.
Hohe Eigenverantwortung
Der Coach selbst ist Beobachter, interveniert nur fragend, niemals antwortend – und auch nur, wenn er es als äusserst notwendig erachtet. Ansonsten sind die Studierenden sich selbst überlassen. «Wir räumen unseren Studierenden möglichst viel Freiheit ein und mischen uns deshalb nur selten intervenierend ein», so Rey. «Sind sie auf dem Holzweg, versuchen wir, sie mit präzisen Fragen auf die richtige Bahn zu lenken. Antworten geben wir aber nie.» Rey, der aus dem Bereich der Sozialen Arbeit kommt, sagt, dass es ihm anfangs nicht einfach gefallen ist, die Studierenden sich selbst zu überlassen: «Ich musste das erst lernen. Aber Scheitern gehört zum Konzept.»
Siebzehn Studierende haben den ersten Studiengang im September 2017 begonnen, drei davon sind mittlerweile nicht mehr dabei. «Es ist fordernd und verlangt viel Eigenverantwortung und -initiative», sagt Hannes Cina. Ein Studium, für das nicht jedermann geschaffen ist. «Im Bewerbungsprozess für die erste Team Academy war die Reife der Interessierten ein entscheidendes Kriterium», so Rey.
Mit einer Null gestartet
Die Theorie, die die Studierenden in den «Coaching Sessions» selbst erarbeiten oder an einer «Session de formation» im Austausch mit einem Experten zu einem spezifischen Thema vertiefen, dienen letztlich nur der Grundlage für die übrigen acht Halbtage, an welchen die Studierenden das Gelernte in die Praxis umsetzen.
Zu Beginn des Studiums gründeten die Studierenden die Genossenschaft «Andromeda», das «Dachunternehmen» während den drei Ausbildungsjahren, dem alle Studierenden angehören und das hauptsächlich Mandate für externe Unternehmen durchführt.
Da «Andromeda» im Herbst 2017 mit einer Null startete, mussten die Studierenden das Kapital erst zusammentragen. Als Mittel dazu dienten die «24 heures client»: Die Studierenden werden von einem realen Unternehmen mandatiert, die Lösung zu einem konkreten Problem zu finden. Bezahlt wird je nach Zufriedenheit des Kunden.
Mit dem über die Zeit angeschafften Kapital begann der spannendere Teil der Ausbildung: die Erarbeitung eigener Projekte. Dafür können die Studierenden in kleineren Gruppen zusammenarbeiten, mindestens drei müssen es aber jeweils sein, «weil sonst die Dynamik und die Kompetenz der Zusammenarbeit in der Gruppe fehlen», sagt Rey.
Zahlreiche Projekte sprossen aus dem Boden. «BeBlio» beispielsweise, ein Team, das Konferenzen organisiert, oder «Apéro Urbain», welches mobile Pop-up-Apéros anbietet. Finanziert werden diese Projekte aus dem gemeinsamen Kapital. Damit dieses freigegeben wird, muss eine Mehrheit von selbst festgelegten 80 Prozent der Studierenden der Idee zustimmen. Das Primärziel ist das Erlernen von Kompetenzen, der finanzielle Aspekt ist zweitrangig. Auch hier lautet das Motto: «Scheitern ist erlaubt.»
Parallelen mit der eingangs vermuteten Villa Kunterbunt gibt es: Den unternehmerischen Möglichkeiten und der Entfaltung der Studierenden werden an der Team Academy – «im Rahmen des Legalen», wie Rey präzisiert – keine Grenzen gesetzt, «learning by doing» wird grossgeschrieben. Keine Kurspläne, keine Vorlesungen, keine Prüfungen heisst hier «wöchentlich mindestens 50 Stunden in unsere Ausbildung und Projekte zu investieren», sagt Hannes Cina. Freiheit verpflichtet.
Die Team Academy
Das Konzept der Team Academy stammt ursprünglich aus Finnland. Im Unterschied zu klassischen Ausbildungen werden die Studierenden dabei zu Akteuren ihres Bildungsgangs. Statt in Vorlesungen eignen sich die Studierenden den Stoff selbst an, diskutieren ihn in der Gruppe und laden Experten ein, die sie im Lernprozess unterstützen könnten.
Trotz Freiheiten gibt es klare Regeln: Fortschritte in 21 Kompetenzen (darunter Projektmanagement und Leadership) müssen vorgewiesen werden. Die Lektüre muss von den Coaches abgesegnet werden und wird im Plenum vorgestellt und kritisch hinterfragt. Zudem werden von den Studierenden Artikel verlangt, in welchen sie sich mit dem Gelernten auseinandersetzen.
Zentral ist die Praxis: Die 14 Studierenden haben die Genossenschaft «Andromeda» gegründet, Startkapital erwirtschaftet und arbeiten an acht Halbtagen in Eigeninitiative oder auf Mandat an Projekten.
Dieser Artikel erschien erstmals am 20. Dezember 2018 im Walliser Bote.