«Das Wallis ist wie der Bauch meiner Mutter»
Sie lebte in den USA, in Belgien, nun in Paris. Und Noémie Schmidt ist gerade dabei, etwas zu schaffen, was den meisten welschen Kulturschaffenden verwehrt bleibt: den Sprung über den Rösti-Graben. Kurz vor Weihnachten war die aufstrebende Schauspielerin zu Besuch an der «Matinée Bilingue» im Kollegium Brig. Wir haben sie danach im Zug bis in ihre Heimatstadt Sitten begleitet.
Weltenbummlerin. Bereits nach der Matura zog es Noémie Schmidt in die Ferne – «vielleicht spürte ich damals schon das Gefühl, im Wallis zu ersticken».
Foto WB/Andrea Soltermann
Noémie Schmidt, einer Ihrer letzten Filme heisst «Paris est une fête». Sie leben in Paris, dort herrscht aber momentan keine Feststimmung.
«Ja, das stimmt. Paris ist zurzeit kein Fest, es ist ein Ort der Kristallisierung des Kampfes und der Macht. Ich verstehe die Wut der Leute, empfinde die Konfrontationen als legitim. Der Titel war nicht mehr angemessen, deshalb haben wir ihn umbenannt. Neu heisst er ‹Paris est à nous›. So bleiben wir der Botschaft des Films treu.»
Wie haben Sie die letzten Wochen mit den Protesten der «gilets jaunes» erlebt?
«Ich war nicht von Anfang an dabei, da ich in Mexiko weilte. Sobald ich wieder in Paris war, schloss ich mich den Protesten an. Wenn über Gewalt gesprochen wird, werden oft die brennenden Autos und die Zerstörung von öffentlichem Gut erwähnt. Mir scheint dies angesichts der institutionellen und staatlichen Gewalt, welche die Franzosen täglich erleben, aber als das kleinere Übel. Über diese Gewalt müssen wir sprechen. Ich weine keinem brennenden Auto nach.»
Was bringt Sie denn zum Weinen?
«Ich weine, weil die Menschen keine Arbeit mehr haben, weil sie in prekären Situationen leben, weil soziale Leistungen infrage gestellt werden. Diese Probleme müssen wir entschlossen anpacken. In der Schweiz ist uns das nicht bewusst, denn wir leben in einer viel komfortableren Welt, während in Frankreich viele Menschen vergessen und vernachlässigt werden.»
Sehen Sie sich als politisch engagierte Künstlerin?
«Natürlich habe ich Werte, die ich durch meine Arbeit verteidigen möchte. ‹Engagierter Künstler› ist aber ein grosser Begriff. Jeder hat seine eigene Definition davon. Ich versuche zumindest, ehrlich zu sein.»
“«Ich weine keinem brennenden Auto nach»”
Ehrlichkeit. Ein Wert,den Sie immer wieder ansprechen.
«Weil ich ihn als wichtig empfinde und es sehr schwierig ist, wirklich ehrlich zu sein. Das beginnt schon bei der Ehrlichkeit gegenüber sich selbst.»
Sie haben das Wallis nach der Matura verlassen und die USA während acht Monaten alleine bereist. Eine Flucht?
«Vielleicht war es eine Flucht, aber damals habe ich mir das nicht eingestanden. Meine Motivation war eher, Menschen zu treffen, die Spra-che zu lernen und meinen Geist zu öffnen. Ich wollte schon immer reisen und vielleicht spürte ich damals schon das Gefühl, im Wallis zu ersticken. Ich wollte kulturelles Neuland betreten, von Filmen und Theaterstücken bewegt und überwältigt werden, die ich im Wallis nicht finden konnte.»
Kurz nach ihrer Rückkehr ins Wallis haben Sie Ihre Schauspielausbildung in Brüssel begonnen. Hat die Schweiz keine geeigneten Strukturen?
«Doch, zum Beispiel die ‹Manufacture› in Lausanne oder an der HEAD in Genf. Aber sie entsprachen nicht meinen Wünschen. Ich wollte woanders hingehen, das Elternhaus verlassen. Aber ich liebe das Wallis umso mehr, seit ich weg bin.»
Was bringt Sie zurück ins Wallis?
«Das Wallis ist wie der Bauch meiner Mutter, hier fühle ich mich sicher und geborgen. Sobald ich mich überfordert fühle, komme ich gerne nach Hause, um Freunde und Familie wiederzusehen und mich daran zu erinnern, wer ich bin.»
Am Hof. Noémie Schmidt als Henrietta von England in der Serie «Versailles».
Foto CANAL+/Thibault Grabherr
Nun leben Sie aber in Paris.
«Das war ein pragmatischer Entscheid. Alle Filmagenten sind in Paris. Nach meinem ersten Kurzfilm ‹Coda› erhielt ich einige Anfragen, reiste ständig zwischen Brüssel und Paris hin und her. Aber die Vorstellung, in Paris zu wohnen, hat mich erst beängstigt. In der Westschweiz wachsen wir mit einem ziemlich starken anti-französischen Rassismus auf. Nach und nach habe ich das kulturelle Angebot, das Sprudeln dieser Stadt wahrgenommen. Der Anfang aber war schwer. Paris ist brutal: In Bezug auf die Armut und die strukturelle, institutionelle und soziale Gewalt der Grossstadt. Das war ich nicht gewohnt.»
Sie haben «Coda» angesprochen, für welchen Sie ausgezeichnet wurden. Ein schöner Karrierestart.
«Ich hatte grosses Glück, die Regisseurin Ewa Brykalska zu treffen und eine so schöne künstlerische Begegnung zu erleben. Sie gab mir sofort Macht als Schauspielerin.»
Dank Ihrer Rollen reisen Sie auch in der Zeit. Wie fühlt es sich an, in den Spiegel zu schauen und Henrietta von England blickt zurück?
«Für mich ist es ziemlich natürlich, in andere Rollen zu schlüpfen. Das machen wir ja ständig. In diesem Interview spiele ich eine andere Rolle als gegenüber meinem Vater. Gleichzeitig habe ich es immer gemocht, mich zu verkleiden. Aber ich habe mich nie wirklich gefragt, ob ich es bin oder nicht.»
Ihr Lieblingsfilm ist «Hair», die Wände Ihres Zimmers sind mit Postern von Bob Dylan und anderen Stars der 1970er-Jahre gesäumt. Woher rührt dieses Faible?
«Die 1970er-Jahre mit dem Bruch der etablierten Ordnung sprechen mir zu. Es muss aber nicht sehr angenehm gewesen sein, in den 70er-Jahren eine Frau zu sein. Ich bin sehr glücklich, im Jahr 2018 zu leben und die Veränderungen in der Gesellschaft mitzuerleben, auch wenn sie sehr langsam sind. In den 70er-Jahren wäre es noch schlimmer gewesen. Zudem inspirieren mich die grossen Themen von damals, wie man das Zusammenleben organisieren und die Gesellschaft neu denken kann.»
“«Ich wurde erzogen, sparsam zu leben»”
Ein aktuelles Thema, denn das Wallis wird seine Verfassung von 1907 neu schreiben. Was würden Sie gerne darin sehen?
«Werte wie die Gleichstellung von Mann und Frau, Schweizern und Nicht-Schweizern und deren Gleichberechtigung. Dann würde ich einen starken Schwerpunkt auf kostenlose, offene und kindgerechte Bildung legen. Zweifellos auch eine Charta über den Klimaschutz. Ein starkes Engagement gegen Homophobie, gleiche Rechte für alle. Also auch das Recht für alle, zu heiraten, zu adoptieren und abzutreiben.»
Mit Ihren Rollen in Film, Fernsehen und Werbung verdienen Sie viel Geld. Leben Sie im Luxus?
«Ich wurde erzogen, sparsam zu leben. Klar könnte ich in grösserem Luxus leben, aber ich bevorzuge es, mein Geld in künstlerische Projekte zu investieren, anstatt in meinen eigenen Komfort oder mein eigenes Interesse. Auch wenn ich offensichtlich bequemer lebe als die meisten Menschen. Ich fühle mich sehr privilegiert.»
«Wolkenbruch», mit dem Sie in der Deutschschweiz bekannt wurden, wurde aufgrund der Darstellung der orthodoxen Juden auch kritisiert. Haben Sie sich solche Fragen beim Lesen des Drehbuchs auch gestellt?
«Ja, aber gleichzeitig ist es eine Komödie und hat nicht den Anspruch, realitätsgetreu zu sein. Dafür mussten wir unbedingt mit Klischees spielen und uns über sie lustig machen. Der Film hat keine philosophische Berufung. Er kann gefallen oder nicht. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass ich beleidigend war. Der Film bleibt der Religion gegenüber respektvoll, selbst, wenn er sie kritisiert.»
Debüt. Der Kurzfilm «Coda» von Ewa Brykalska mit Noémie Schmidt in der Hauptrolle.
Quelle: Vimeo/ewa brykalska
Zur Person
Noémie Schmidt wurde 1990 in Sitten geboren und absolvierte dort ihre obligatorische Schule. Nach einem Zwischenjahr begann sie 2010 ihre Schauspielausbildung an der École Internationale de Théâtre Lassaâd in Brüssel. Nach dem Erfolg ihres Debüts im Kurzfilm «Coda» zog die Sittenerin nach Paris. Bekannt wurde sie im französischsprachigen Raum dank Rollen in der Serie «Versailles» als Henrietta von England und Filmen wie «Frühstück bei Monsieur Henri» mit Claude Brasseur und «Nichts zu verschenken» mit Dany Boon. 2018 schaffte sie mit «Wolkenbruch» an der Seite von Joel Basman den Durchbruch in der Deutschschweiz.
Dieses Interview erschien erstmals am 3. Januar 2019 im Walliser Bote.