In der Rubrik Portfolio finden Sie ausgewählte Arbeiten und im Blog persönlichere Texte.

Über konstruktives Feedback, Anregungen und Themenideen würde ich mich sehr freuen. Sie erreichen mich über Twitter, LinkedIn oder E-Mail.

Der Zwilling


Der Zwilling

Heute fängt Johannes’ Tag mit vier Pillen an. Drei davon nimmt er gegen seine Depressionen. Die letzte hilft ihm, ­abstinent zu bleiben: Jahrelang trank er, um seine Krankheit zu verdrängen.

Die Fratze. Gegen seine Depressionen griff Johannes schon morgens zur Flasche. Der Alkohol machte ihn wieder glücklich – und krank.Symbolbild WB/Andrea Soltermann

Die Fratze. Gegen seine Depressionen griff Johannes schon morgens zur Flasche. Der Alkohol machte ihn wieder glücklich – und krank.

Symbolbild WB/Andrea Soltermann

Wenn das denn hilft: Trittico, 200  mg, gelblich-weiss, rautenförmig; Cipralex, 10  mg, weiss, oval; Sequase, 450  mg, uringelb, rund, gegen die Depressionen. Dazu Seresta, 30  mg, weiss und rund, gegen die akuten Entzugserscheinungen. Seresta ist das Mittel gegen die Selbstmedikation der letzten Jahre: Heineken und Whisky aus der Plastikflasche vom Kiosk.

Wann alles anfing, weiss Johannes – der wie alle in diesem Text einen anderen Namen trägt – nicht. «Er hat schon immer gerne einen Schluck getrunken», sagt seine Frau Inge. Gesellschaftlich akzeptiert, anfangs aber völlig unproblematisch. Ob zuerst die Alkoholkrankheit oder die Depression da war, weiss niemand. Im Lauf der Jahre haben sich viele Personen aus Johannes’ Umfeld von ihm abgewendet, sie erachten ihn als schwach.

In Zeiten schwerster Krise trank Johannes – Sternzeichen Zwilling – schon morgens. Das Klirren der Heinekenflaschen aus dem Untergeschoss verriet ihn. «Da könnte ich die Wände hinaufklettern», sagt Inge, «noch heute.» Sie hat ihn gestellt, mehrmals. Hat ihn mit seiner Krankheit konfrontiert. Johannes wollte davon nichts wissen.
Fällt er ins Loch, fühlt er sich wieder so, hat das Gefühl, nichts wert zu sein, nichts auf die Reihe zu bringen. Mit Alk verdrängt er die schwarzen Gedanken und fokussiert sich auf die Arbeit. Johannes leistet in jener Zeit «mindestens 150 Prozent». Sein Chef Pierre-Alain merkt das nicht, weil Johannes neben seiner Anstellung Lehrlingen praktische Kurse erteilt. Um das hohe Pensum zu bewältigen, muss er seinen Pegel halten. Zehn bis 15 Bier am Tag, dazu eine halbe Flasche Whisky. «Mir sah man die Sucht eigentlich nie gross an. Äusserlich hätte wahrscheinlich niemand sagen können, dass ich ein Problem habe», glaubt er. Inge sieht das anders, erkennt seine Abhängigkeit schon, wenn er die Treppe heraufkommt und sie in seine eisblauen Augen blickt. «Da kann er mir noch tausend Mal sagen, dass er nicht getrunken hat.»

400 Meter zum Rössli

Seit dreieinhalb Jahren ist Johannes in Therapie. Entzug und psychiatrische Behandlung. Dazu therapeutische Begleitung für seine psychische Stabilität und die Abstinenz. Im Juni 2015 meldet er sich auf eigene Initiative zum ersten Mal für drei Monate in Bern an. Klinik Südhang. Kein Zwang, keine Verordnung. Aber es hilft ihm, vorerst wieder Fuss zu fassen. Johannes geht wieder zur Arbeit, teilt seinen Erfahrungsvorsprung mit dem jungen Team. Er ist in Topform, fehlt nicht mehr. «Tüchtig, ein guter Arbeiter», sagt Pierre-Alain, der während fünf Jahren sein Chef war.

Johannes ist technischer Leiter in einem KMU, hat einen Posten mit Verantwortung – und mit einem gespaltenen Verhältnis dazu. «Er lebt für seinen Beruf», sagt sein Sohn Marco, der den Vater während den Sommerferien begleitete, um sein Taschengeld aufzubessern. «Er ist ein Arbeitstier, was er macht, liebt er.» Die Arbeit belastet Johannes, fünf Jahre vor der Pensionierung, stark. «Manchmal will er einfach zu viel», sagt Marco. Abschalten kann er kaum, lässt den Auftragsmangel und die Konflikte nicht im Büro, sondern schleppt sie nach Hause. Oder ins Rössli.

Den Weg zum Rössli kennt Marco, heute 24-jährig, gut. Als er 16 war, bat ihn seine Mutter Inge erstmals, den Vater aus der Beiz zu holen. 400 Meter die Dorfstrasse hinunter, leer schlucken, die Klinke hinunterdrücken, hineingehen, Johannes mitnehmen, vor den Augen seiner Kumpanen. «Ein Scheissgefühl», sagt Marco. Er tat es seiner Mutter zuliebe, will ihr Sorgen abnehmen. Wieder 400 Meter die Strasse hinauf, Marco begleitet Johannes, stützen muss er ihn nicht. Morgen sind sie wieder Dorfgespräch. Der böse Zwilling. Beruhigt ist Inge erst, als Johannes im Bett ist. Dann erst legt sie sich neben ihn und schläft unruhig.
«Mir sah man die Sucht eigentlich nie gross an»
— Johannes

Meistens erinnert sich Johannes noch an den lautstarken Streit vom Vorabend. Er fühlt sich schuldig. Meistens entschuldigt er sich. Manchmal lässt er seinen Emotionen freien Lauf. «Er kann mich dann auch wieder anlächeln, und in diesem Moment kann ich ihm nicht böse sein», sagt Inge. Sie hofft dann, dass der Tag nicht wieder im Suff endet.

Der Dampfkochtopf

Nicht nur die Arbeit lastet auf ihm. In Johannes lebe Pestalozzi weiter, sagt Inge. «Ich eilte immer zu Hilfe. Auch wenn man mich abends um 21.00 Uhr anrief, bin ich ‹gsecklut›», sagt Johannes über sich. Er gibt viel, erhält wenig zurück – ein Helfersyndrom. Eher schenkt er den Problemen der anderen Aufmerksamkeit, als seine Sorgen zu teilen. Inge vergleicht ihn mit einem Dampfkochtopf. Sein Ventil: der Alkohol.

Seine Depressionen unterdrückt er, er spielt eine Rolle. Im Rössli führt sich Johannes je länger je mehr wie der Dällebach Kari auf, das Berner Stadtoriginal. «Ich hatte das Gefühl, überall die Leute unterhalten zu müssen», sagt er. In diesen Momenten ist er jemand. Es wird ihm zunehmend unangenehm. «Am nächsten Tag stellte ich fest, dass ich mich hinter einer Rolle versteckt hatte. Das hat mir nicht so recht gepasst.» Johannes geht nur noch selten ins Rössli. Sein Konsum verlagert sich vom Stammtisch auf die Strasse: Er kauft Whisky in der Plastikflasche am Kiosk, trinkt ihn auf dem Heimweg oder zu Hause, wenn Inge noch arbeitet. Marco ist vor vier Jahren ausgeflogen.

Pierre-Alain, der Chef, erkennt es an Johannes’ geröteten Backen, dass es ihm nicht gut geht, dass er vor dem Abgrund steht. Er riecht die Alkoholfahne. Im Betrieb ist Johannes’ Konsum ein offenes Geheimnis. «Er hebt wohl wieder einen Aperol Spritz» wird zum Running Gag. Kunden meiden ihn.

Kurz vor Weihnachten 2015 verschwindet Johannes von seinem Arbeitsplatz. Die Vorweihnachtszeit ist schwierig. Einig sind sich alle: Der Tod seiner Mutter vor sieben Jahren, später seines Vaters, haben die Situation verschlimmert. Er stand ihnen nahe. «Früher feierten sie immer zusammen», meint Marco.

Als Johannes verschwindet, steht die ganze Bude Kopf. «Einen halben Tag lang haben wir nach ihm gesucht. Schliesslich riefen uns Kunden an und sagten, er liege auf einer Bank an der Bushaltestelle, in der Nähe der Gleise.» Pierre-Alain sieht Weihnachten seither anders: «Sobald Weihnachten vor der Tür stand, boah, da wurde uns Angst und Bange.»

Dieses Jahr feierte die kleine Familie erstmals nicht zu Hause, sondern beim Sohn in Zürich. Ein Kulissenwechsel mit Wirkung. Johannes geht es gut. Die Besserung soll sich innerhalb der nächsten zwei Jahre stabilisieren. Der Umzug ins Tal ist in Planung. Nur weg vom Ort, der giftig ist für Johannes. Wo der Druck zu hoch ist, jeder jeden kennt. Ein Ort, der ­ihnen die Luft abschnürt.

«Da obina»

Die Nähe zu den Gleisen vor Weihnachten 2015 war kein Zufall. Beim ersten Suizidversuch seines Vaters war Marco drei oder vier Jahre alt, so genau kann sich Inge nicht mehr erinnern. Es folgt der erste Aufenthalt im Psy­chiatriezentrum Oberwallis in Brig. «Da obina», wie Johannes sagt. Eingeliefert. Drei Monate von Januar 2016 bis März. «Danach kam er wieder in Topform zur Arbeit zurück.» Mit Pierre-Alain hat er sein Pflichtenheft angepasst, sein Pensum reduziert.

Johannes findet Ausgleich beim Schwimmen und in Yogastunden, in plastischen Arbeiten mit Holz und Stein, neuerdings mit Gips. Er spaziert gerne, hat seine Kamera dabei, hält positive Erinnerungen fest. Wenn es ihm schlecht geht, schaut er die Fotos an. Oder er holt Kärtchen mit Sprüchen aus seinem blauen Umhängeportemonnaie: «Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren», steht darauf. Dazwischen nur ein GA und so viel Bargeld, wie er gerade braucht.

«Es wäre manchmal einfacher, wenn er Krebs hätte»
— Inge über die Krankheit ihres Mannes
Das GA ist die Konsequenz seines Führerscheinentzugs. «Johannes hatte mich um Hilfe bei Umbauarbeiten bei sich zu Hause gebeten», erinnert sich Pierre-Alain. Zum abgemachten Zeitpunkt ist Johannes nicht da. Als Pierre-Alain nach eineinhalb Stunden die Strasse hinunterfährt, sieht er eine Polizeipatrouille am Strassenrand stehen, die einem Mann Handschellen anlegt. «Scheisse, das ist Johannes.» Trunkenheit am Steuer. Da auch Inge nicht Auto fährt, kauft sich die ganze Familie das Generalabonnement der SBB. Johannes ist zum zweiten Mal «da obina», drei Monate lang von Juni bis August 2017.
Zwei, drei Mal lässt sich Johannes verführen, pokert schwarz. «Da hani nix kennt ka», sagt er. Er will damit seine finanziellen Sorgen tilgen, die aus seinen und Inges Absenzen am Arbeitsplatz resultieren. Dazu ein gewisser Beschaffungsdruck für den Konsum. Das Resultat sind Verluste von bis zu 4000 Franken. Pro Abend. Das Glücksspiel wird nicht zur Sucht, es kommt nur zwei bis drei Mal vor. «Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass das nicht geht, und habe seither nie mehr eine Bankkarte bei mir.»

Der sensible Starke

Johannes ist schon immer der, der alles kann. Das hat Inge fasziniert, als sie vor 35 Jahren zu «karisieren» begannen. Der gute Zwilling. Er war im Jugendverein, politisch aktiv, ein Macher. Er ist der Starke, der anderen Halt gibt. In den letzten Jahren wandelt sich dies. Die Familie muss ihm Rückhalt geben, das Band wird noch stärker als zuvor. «Marco hält sehr stark zu seinem Vater. Für ihn ist Johannes…», sie findet die Worte nicht, zeigt Richtung Decke, «es hätte ja auch anders kommen können.»

Für viele ist Johannes schwach. Dass es sich bei Depression und Alkoholsucht um Krankheiten handelt, verstehen sie nicht, möchten es nicht verstehen. Sie denken, er sei selbst schuld an seinen Problemen. «Es wäre manchmal einfacher, wenn er Krebs hätte», sagt Inge.

Zum dritten Mal ist Johannes im Juli und August 2018 «da obina». Die Suizide zweier Menschen aus dem näheren Umfeld, die Krankheit seiner Frau, ein Streit mit dem Schwiegervater. Zwei Tage Absturz, zwei Monate Rekonvaleszenz.

Und immer die Hoffnung auf bessere Zeiten: Längerfristig winkt das Meer, ein Haus am Strand, für ein Jahr oder zwei. «Wir können nicht vom Negativen weg – das wird uns immer begleiten», sagt Inge, «das Problem wird immer mit uns gehen.» Sie hofft, dass sich Johannes am Meer glücklicher fühlt.

Mittlerweile kann Johannes ins Rössli, wenn es ihm gut geht. Er trinkt einen Eistee, liest Zeitung. Und weiterhin: Trittico, Cipralex, Sequase gegen die Depressionen, Seresta gegen Angstzustände und akute Entzugserscheinungen. Wenn das denn hilft.

Dieses Porträt erschien erstmals am 7. Januar 2019 im Walliser Bote.

Das fahrende Postbüro


Das fahrende Postbüro

«Das Wallis ist wie der Bauch meiner Mutter»


«Das Wallis ist wie der Bauch meiner Mutter»