Der Zwilling
Heute fängt Johannes’ Tag mit vier Pillen an. Drei davon nimmt er gegen seine Depressionen. Die letzte hilft ihm, abstinent zu bleiben: Jahrelang trank er, um seine Krankheit zu verdrängen.
Wenn das denn hilft: Trittico, 200 mg, gelblich-weiss, rautenförmig; Cipralex, 10 mg, weiss, oval; Sequase, 450 mg, uringelb, rund, gegen die Depressionen. Dazu Seresta, 30 mg, weiss und rund, gegen die akuten Entzugserscheinungen. Seresta ist das Mittel gegen die Selbstmedikation der letzten Jahre: Heineken und Whisky aus der Plastikflasche vom Kiosk.
Wann alles anfing, weiss Johannes – der wie alle in diesem Text einen anderen Namen trägt – nicht. «Er hat schon immer gerne einen Schluck getrunken», sagt seine Frau Inge. Gesellschaftlich akzeptiert, anfangs aber völlig unproblematisch. Ob zuerst die Alkoholkrankheit oder die Depression da war, weiss niemand. Im Lauf der Jahre haben sich viele Personen aus Johannes’ Umfeld von ihm abgewendet, sie erachten ihn als schwach.
400 Meter zum Rössli
Seit dreieinhalb Jahren ist Johannes in Therapie. Entzug und psychiatrische Behandlung. Dazu therapeutische Begleitung für seine psychische Stabilität und die Abstinenz. Im Juni 2015 meldet er sich auf eigene Initiative zum ersten Mal für drei Monate in Bern an. Klinik Südhang. Kein Zwang, keine Verordnung. Aber es hilft ihm, vorerst wieder Fuss zu fassen. Johannes geht wieder zur Arbeit, teilt seinen Erfahrungsvorsprung mit dem jungen Team. Er ist in Topform, fehlt nicht mehr. «Tüchtig, ein guter Arbeiter», sagt Pierre-Alain, der während fünf Jahren sein Chef war.
Johannes ist technischer Leiter in einem KMU, hat einen Posten mit Verantwortung – und mit einem gespaltenen Verhältnis dazu. «Er lebt für seinen Beruf», sagt sein Sohn Marco, der den Vater während den Sommerferien begleitete, um sein Taschengeld aufzubessern. «Er ist ein Arbeitstier, was er macht, liebt er.» Die Arbeit belastet Johannes, fünf Jahre vor der Pensionierung, stark. «Manchmal will er einfach zu viel», sagt Marco. Abschalten kann er kaum, lässt den Auftragsmangel und die Konflikte nicht im Büro, sondern schleppt sie nach Hause. Oder ins Rössli.
Meistens erinnert sich Johannes noch an den lautstarken Streit vom Vorabend. Er fühlt sich schuldig. Meistens entschuldigt er sich. Manchmal lässt er seinen Emotionen freien Lauf. «Er kann mich dann auch wieder anlächeln, und in diesem Moment kann ich ihm nicht böse sein», sagt Inge. Sie hofft dann, dass der Tag nicht wieder im Suff endet.
Der Dampfkochtopf
Seine Depressionen unterdrückt er, er spielt eine Rolle. Im Rössli führt sich Johannes je länger je mehr wie der Dällebach Kari auf, das Berner Stadtoriginal. «Ich hatte das Gefühl, überall die Leute unterhalten zu müssen», sagt er. In diesen Momenten ist er jemand. Es wird ihm zunehmend unangenehm. «Am nächsten Tag stellte ich fest, dass ich mich hinter einer Rolle versteckt hatte. Das hat mir nicht so recht gepasst.» Johannes geht nur noch selten ins Rössli. Sein Konsum verlagert sich vom Stammtisch auf die Strasse: Er kauft Whisky in der Plastikflasche am Kiosk, trinkt ihn auf dem Heimweg oder zu Hause, wenn Inge noch arbeitet. Marco ist vor vier Jahren ausgeflogen.
Pierre-Alain, der Chef, erkennt es an Johannes’ geröteten Backen, dass es ihm nicht gut geht, dass er vor dem Abgrund steht. Er riecht die Alkoholfahne. Im Betrieb ist Johannes’ Konsum ein offenes Geheimnis. «Er hebt wohl wieder einen Aperol Spritz» wird zum Running Gag. Kunden meiden ihn.
Kurz vor Weihnachten 2015 verschwindet Johannes von seinem Arbeitsplatz. Die Vorweihnachtszeit ist schwierig. Einig sind sich alle: Der Tod seiner Mutter vor sieben Jahren, später seines Vaters, haben die Situation verschlimmert. Er stand ihnen nahe. «Früher feierten sie immer zusammen», meint Marco.
Dieses Jahr feierte die kleine Familie erstmals nicht zu Hause, sondern beim Sohn in Zürich. Ein Kulissenwechsel mit Wirkung. Johannes geht es gut. Die Besserung soll sich innerhalb der nächsten zwei Jahre stabilisieren. Der Umzug ins Tal ist in Planung. Nur weg vom Ort, der giftig ist für Johannes. Wo der Druck zu hoch ist, jeder jeden kennt. Ein Ort, der ihnen die Luft abschnürt.
«Da obina»
Die Nähe zu den Gleisen vor Weihnachten 2015 war kein Zufall. Beim ersten Suizidversuch seines Vaters war Marco drei oder vier Jahre alt, so genau kann sich Inge nicht mehr erinnern. Es folgt der erste Aufenthalt im Psychiatriezentrum Oberwallis in Brig. «Da obina», wie Johannes sagt. Eingeliefert. Drei Monate von Januar 2016 bis März. «Danach kam er wieder in Topform zur Arbeit zurück.» Mit Pierre-Alain hat er sein Pflichtenheft angepasst, sein Pensum reduziert.
Johannes findet Ausgleich beim Schwimmen und in Yogastunden, in plastischen Arbeiten mit Holz und Stein, neuerdings mit Gips. Er spaziert gerne, hat seine Kamera dabei, hält positive Erinnerungen fest. Wenn es ihm schlecht geht, schaut er die Fotos an. Oder er holt Kärtchen mit Sprüchen aus seinem blauen Umhängeportemonnaie: «Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren», steht darauf. Dazwischen nur ein GA und so viel Bargeld, wie er gerade braucht.
Der sensible Starke
Johannes ist schon immer der, der alles kann. Das hat Inge fasziniert, als sie vor 35 Jahren zu «karisieren» begannen. Der gute Zwilling. Er war im Jugendverein, politisch aktiv, ein Macher. Er ist der Starke, der anderen Halt gibt. In den letzten Jahren wandelt sich dies. Die Familie muss ihm Rückhalt geben, das Band wird noch stärker als zuvor. «Marco hält sehr stark zu seinem Vater. Für ihn ist Johannes…», sie findet die Worte nicht, zeigt Richtung Decke, «es hätte ja auch anders kommen können.»
Zum dritten Mal ist Johannes im Juli und August 2018 «da obina». Die Suizide zweier Menschen aus dem näheren Umfeld, die Krankheit seiner Frau, ein Streit mit dem Schwiegervater. Zwei Tage Absturz, zwei Monate Rekonvaleszenz.
Und immer die Hoffnung auf bessere Zeiten: Längerfristig winkt das Meer, ein Haus am Strand, für ein Jahr oder zwei. «Wir können nicht vom Negativen weg – das wird uns immer begleiten», sagt Inge, «das Problem wird immer mit uns gehen.» Sie hofft, dass sich Johannes am Meer glücklicher fühlt.
Mittlerweile kann Johannes ins Rössli, wenn es ihm gut geht. Er trinkt einen Eistee, liest Zeitung. Und weiterhin: Trittico, Cipralex, Sequase gegen die Depressionen, Seresta gegen Angstzustände und akute Entzugserscheinungen. Wenn das denn hilft.
Dieses Porträt erschien erstmals am 7. Januar 2019 im Walliser Bote.