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24 Stunden in der Schweiz: Geschichten aus einem aussergewöhnlichen Land


24 Stunden in der Schweiz: Geschichten aus einem aussergewöhnlichen Land

Die Schweiz wählt. Aber was ist das für ein Land? Dreizehn Momente aus einem Tag: von Starken und Schwachen, von Lauten und Leisen, von Rettern und Ganoven.

13:07 Uhr, Genossenschaftswohnung in Genf: François Favre schlägt sich durch

Pizzakurier und «Working Poor» François Favre auf seinem Balkon. Bild: Adrien Woeffray

Pizzakurier und «Working Poor» François Favre auf seinem Balkon. Bild: Adrien Woeffray

Die Klingel, die man bei François Favre drückt, hört man nicht. Ein Plattenbau in einem Vorort im Nordwesten Genfs, im Hintergrund das Grollen der A1. Favre, 36, öffnet die Tür in Batik-Shirt, Pumphose und zwei unterschiedlichen Socken, aus der linken schaut ein Zeh.

In der 5-Zimmer-Wohnung einer Genossenschaftssiedlung wohnt er mit seiner Partnerin, deren beiden Kindern und seinen zwei eigenen – eine Patchwork-Familie, wie sie schweizweit in rund sechs Prozent aller Haushalte vorkommt. Tendenz steigend.

Favre heisst in Wirklichkeit anders, möchte seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen. «Ich bin seit sechs Jahren angestellt und der Dienstälteste», sagt er. Das solle auch so bleiben. Viermal die Woche liefert Favre für ein amerikanisches Unternehmen Pizza aus, in der Regel ist er um 13 Uhr 30 fertig. «An Regentagen läuft am meisten», sagt er.

Angestellt ist Favre im Stundenlohn von knapp 20 Franken, sein Monatsgehalt schwankt zwischen 1600 und 2000 brutto – damit gehört Favre zu den 8,2 Prozent, die in der Schweiz als arm gelten. Bei einer Miete von 1580 Franken bleibt wenig übrig, obwohl auch seine Frau verdient.

Kleider holen die Favres bei Caritas, Möbel gibt es aus dem Brockenhaus oder direkt vom Strassenrand. Der Wohnzimmertisch ist aus unbehandeltem Holz, das Sofa aus Paletten zusammengesteckt. Und dann ist da noch ein selbstgebastelter Haifischkopf, der als Dekoration dient. Nichts passt zusammen, aber Favres mag es so. Von seinem Balkon blickt er auf Wohnblöcke, grau wie seiner.

Nichts passt zusammen, aber Favre mag es so. Und dann ist da noch ein selbstgebastelter Haifischkopf, der als Dekoration dient. Bild: Adrien Woeffray

Nichts passt zusammen, aber Favre mag es so. Und dann ist da noch ein selbstgebastelter Haifischkopf, der als Dekoration dient. Bild: Adrien Woeffray

Trotzdem sei er glücklich mit dem, was er habe, «Hauptsache, die Kinder sind gesund». Sein Sohn mache sich nichts aus Markenkleidern. Nur einmal hätten sich die Freundinnen der Tochter über ihn lustig gemacht, weil er etwas verlottert aussehe.

Als Favre sechs Jahre alt war, kam er mit seiner Mutter aus Frankreich in die Schweiz. Er schloss die Fachmittelschule ab, wollte in einer Tierklinik arbeiten, landete aber auf dem Bau. Seit sechs Jahren fährt er mit seinem Scooter durch die anonymen Vororte Genfs und liefert Pizza aus. Er kennt hier jede Abkürzung, er weiss, welche Hunde bellen und welche Menschen aus Einsamkeit noch ein wenig reden wollen. Es ist Favres Zuhause. Nie will er von hier fort.

17:03 Uhr, Musikklub Alhambra, Genf:
Bastian Baker schläft ein

Musiker Bastian Baker in einer Künstlergarderobe in Genf. Fotos: Anna Pizzolante

Musiker Bastian Baker in einer Künstlergarderobe in Genf. Fotos: Anna Pizzolante

Zwei Stunden dauert es bis zum Auftritt. Bastian Baker, 28, sitzt in der Künstlerloge im zweiten Stock. Nur das fahle Tageslicht erhellt den Raum. Er wirkt müde. Um 4 Uhr morgens ist er aufgestanden, flog von Schottland, wo er an neuen Songs arbeitete, nach Genf.

Einen Wohnsitz in der Schweiz hat er nicht mehr, die drei Monate, die er im Land ist, übernachtet er im Hotel, bei der Familie oder bei Freunden. Ob er nervös sei? «Bin ich nie», sagt Baker, schwarzer Blazer, weisses T-Shirt, Dreitagebart und ein Lächeln wie aus der Werbung.

Baker ist einer der bekanntesten Singer-Songwriter der Schweiz. Sein Debütalbum «Tomorrow May Not Be Better» und die Single «I'd Sing For You» wurden mit Platin ausgezeichnet.

Im Moment tourt er durch die Schweiz. Genf, Zürich, St. Gallen, Solothurn. «In Langnau möchte ich am Nachmittag noch Hockey spielen», sagt er zu seiner Assistentin.

Bevor Baker auf Bühnen zwischen der Westschweiz und der Westküste Amerikas auftrat, hatte er einen Profivertrag beim Eishockeyklub Lausanne. Weil beides nicht ging, entschied er sich für die Musik, was sich als richtig erwies, wie er erst neulich wieder befand. Als Vorgruppe der kanadischen Sängerin Shania Twain tourte er um die Welt. 77 Konzerte, jeweils über 10 000 Zuschauer. Heute in Genf werden es 750 sein.

Von Rock’n’Roll ist wenig zu spüren im Backstage-Bereich dieses Klubs. Während seine Bandmitglieder einen Stock weiter unten Bierflaschen köpfen, trinkt Baker Ingwer-Shots aus Plastikfläschchen. «Wir müssen noch Administratives erledigen», sagt die Assistentin. Es geht um die nächsten Übernachtungen, Gästelisten, Lichttechnik; das Musikgeschäft ist auch nur ein Geschäft.

Noch eine Stunde bis zum Auftritt. Baker will sich ausruhen. Will allein sein, sich sammeln. Seine Bandmitglieder bringen sich derweil in Form und machen einen Stock tiefer Liegestützen und Push-ups. Die Vorband betritt die Bühne. Dumpfe Bässe wummern, die Zuschauer klatschen. Und Baker? Er schläft.


Die beiden Kurzreportagen sind Teil eines grösseren Projekts der NZZ am Sonntag und erschien ursprünglich am 18. Oktober 2019 online und am 20. Oktober 2019 in der Printausgabe. Die NZZ am Sonntag schrieb dazu: Diese Reportage entstand an nur einem einzigen Tag. Am Freitag, dem 11. Oktober ist ein Team von 18 Autorinnen und Autoren, Fotografen und Videojournalisten ins ganze Land ausgeschwärmt. Wir wollten wissen: Was ist die Schweiz? Was macht sie aus? Wir haben Menschen und Orte besucht, die alle für ein Stück dieses Landes stehen. 24 Stunden lang. Entstanden sind dreizehn Momente aus einem einzigartigen Land.

Marets Marsch


Marets Marsch

Die Hoffnung stirbt zuletzt


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