Ein Tag im Oberwallis
Auch das Oberwallis erlebt aussergewöhnliche Zeiten. Und trotzdem geht es weiter. Jeden Tag. Unterwegs mit Gesichtern und Geschichten aus der Region.
Marianne Ruppen-Berchtold
Ein Tisch für vier
12.00 Uhr | Der Holztisch ist gedeckt für vier. Aus der Küche kommen Pfannen statt schön angerichteter Teller, Cola und Fanta aus der PET-Flasche statt Wein im Deziliter. Marianne Ruppen-Berchtolds Gäste sind nicht etwa Stammkunden, sondern ihre Familie. Wie alle Gastrobetriebe im Oberwallis musste das Restaurant Zer Mili in Ried-Brig von einem Tag auf den anderen schliessen. Keine Arbeitermenüs mehr, keine Business-Lunchs, Nichts à la carte. Auf den Tisch kommt, was die Gefriertruhen und Kühlschränke der Küche hergeben. Die Massnahmen des Bundes, die Betriebe erst einzuschränken und kurz darauf zu schliessen, seien ein Schock gewesen, sagt Ruppen-Berchtold, in weissen Jogging-Kleidern statt weisser Bluse. Nur ihre hochtoupierten Haare erinnern an Normalbetrieb. «Nach und nach haben wir uns an die Situation gewöhnt und leben damit.» Die rasche Hilfe des Bundes war nicht nur finanziell wichtig, sondern auch für die Moral. «Man lässt uns nicht im Stich.» Frust oder Enttäuschung? Kaum. «Nun haben wir Zeit für Dinge, die wir sonst selten bis nie hatten», sagt sie. Familie, Sport, Freizeit.
Seit 32 Jahren führt sie mit ihrem Mann Betriebe, seit zehn Jahren das Restaurant Zer Mili in Ried-Brig. «Über Ostern hatten wir nie frei», sagt Ruppen-Berchtold, «und ich kann mich auch nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal vier oder fünf Wochenenden nicht arbeiten mussten.» Das Positive sehen, trotz allem. «Ich hoffe aber schon, dass die Situation nicht mehr ewig andauern wird und wir zum normalen Leben zurückkehren können. Gerade für unsere Mitarbeiter.» Denn die Ängste bleiben. Kurzarbeit und Umsatzeinbussen. In den warmen Monaten werden im Restaurant Zer Mili eigentlich Firmungen gefeiert und Taufen, Hochzeiten und Erstkommunionen. Manche haben bereits ein Ausweichdatum reserviert, andere haben sich nicht mehr gemeldet. Umsatzeinbussen, die in der Zeit nach Corona fehlen werden. Ein reservierter Tisch kann nicht ein zweites Mal besetzt werden. Und die Nachfolgeregelung, die muss auf unbestimmte Zeit verschoben werden.
Esther Waeber-Kalbermatten
Prinzipien bleiben
16.24 Uhr | Esther Waeber-Kalbermatten steigt am Bahnhof Sitten die Treppen zum Gleis 2 hinauf. Gerade eben hat sie mit dem Staatsrat das Hilfspaket für Selbstständigerwerbende vorgestellt, gleich wird sie in den InterRegio 1725 in Richtung Brig steigen. ÖV 1. Klasse statt Pkw. Die Prinzipien, sie bleiben. Selbst, wenn sich rundherum alles verändert. Seit Wochen kennt die Gesundheitsdirektorin nur noch ein Thema: das Coronavirus. «Eine intensive Zeit», sagt sie. Fast täglich habe der Staatsrat seit Ausbruch der Pandemie ein Communiqué veröffentlicht, Arbeit auch am Wochenende. Andere Dossiers im Sozialen und in der Kultur müssen derweil ruhen, werden aufgeschoben. Die vordefinierten Legislaturziele aber bleiben. «Der Herbst wird eine intensive Zeit.»
Waeber-Kalbermatten befindet sich auf der Zielstrecke ihrer politischen Karriere in einem Jahr wird die heute 67-Jährige aus dem Staatsrat zurücktreten. Gemäss COVID-19-Verordnung 2 des Bundes gehört sie aufgrund ihres Alters zu den «besonders gefährdeten Personen», zur Risikogruppe. Deshalb achtet sie besonders darauf, die Empfehlungen zu befolgen. Im Zug reist sie derzeit oft allein. Dennoch gab es diesen einen Moment, als sie Angst vor einer Ansteckung hatte: als ihr Amtskollege Frédéric Favre positiv getestet wurde. «Zum Glück hatten wir unsere Sitzungen in den vorhergehenden Tagen in einem anderen Raum als üblich abgehalten, wo die Distanz möglich war.» Seit diesem Zeitpunkt hat die erzwungene Digitalisierung auch den Staatsrat erreicht. «Homeoffice ist schon etwas anderes», sagt sie. Telefonkonferenzen statt Sitzungen im Staatsratszimmer, «es fehlt das Zwischenmenschliche», sagt sie, «die Diskussionskultur ist anders, entsteht weniger, weil einer nach dem anderen sprechen muss.» Auch ihre Enkelkinder sieht sie derzeit nur via Bildschirm. «Zwei meiner Enkel haben im April Geburtstag», sagt sie. Was derzeit nicht gefeiert werden kann, soll nachgeholt werden. «Das wird das Erste sein, was ich machen werde, sobald alles wieder vorbei ist.» Der Zug rollt in Brig ein. Es ist 17.10 Uhr. Die Staatsrätin fährt mit dem Fahrrad nach Hause. Die Prinzipien, sie bleiben. Morgen geht es weiter.
Daniel Rotzer
Waschen, falten
19.30 Uhr | Pfarrer Daniel Rotzer trifft die letzten Vorbereitungen für die Gründonnerstagsmesse. Sie wird vor leeren Bänken stattfinden, die massiven Eingangstüren abgeschlossen. «Diese Woche schmerzt», sagt Rotzer, gerade jetzt um Ostern, «dem Zentrum unseres Glaubens», könne er nicht mit seiner Gemeinde feiern. «Auf eine Art ist das unmöglich und trotzdem ein bisschen schön.» Die Messe findet statt, die Vorbereitungen laufen wie in gewöhnlichen Zeiten, die Predigt ist geschrieben. «Was wir an Normalität behalten können», sagt Rotzer. Anfühlen wird sie sich ganz anders. Rotzer findet es richtig, dass es für die Kirche keine Sonderregelung gibt, die Gesundheit sei das Wichtigste. «Auf menschlich-weltlicher Seite müssen wir uns an die Vorgaben halten und auf der anderen Seite beten», sagt er. Das eine schliesse das andere nicht aus. «Hände waschen, Hände falten», lautet Rotzers Maxime.
Punkt 20.00 Uhr läuten die Glocken der Muttergotteskirche auf dem Glisacker. «Herzlich willkommen zu diesem denkwürdigen Gründonnerstag», eröffnet Pfarrer Rotzer die Messe, die heute im Chor abgehalten wird, mit dem Rücken zu den leeren Bänken. Begleitet wird er vom Priester im Einführungsjahr Augustus Chukwuma Izekwe und vom Priester im Ruhestand Alois Bregy, von einer Seelsorgehilfe und einer Hilfssakristanin. Fünf Personen. Das Maximum wird ausgereizt. Nach dem Gloria verstummen auch die Glocken. Rotzers Worte hallen im leeren Kirchenschiff nach. In den stillen Momenten ist nur der Verkehrslärm der Gliserallee zu hören, abgedämpft durch meterdicke Steinmauern. Kein Räuspern, kein Flüstern, wie man es in gewöhnlichen Zeiten hören würde. Vor der Kommunion reibt sich Izekwe die Hände mit Desinfektionsmittel ein. Zurück in der Sakristei, Punkt 21.00 Uhr. Wie war die Messe? «Besinnlich», sagt Rotzer, «schön, melancholisch und ein bisschen traurig.» Am Samstag wird seine Osternachtsmesse im Internet übertragen, «wenigstens dann werden Leute mit uns verbunden sein». Rund 1800 Aufrufe werden es innerhalb eines Tages auf YouTube sein.
Die drei Kurzreportagen sind Teil eines grösseren Projekts des Walliser Boten. Die Reportage entstand an nur einem Tag. Am 9. April 2020, Gründonnerstag, rückten 10 Reporter und Fotografen des Walliser Boten aus, um zu erfahren, wie Oberwalliserinnen und Oberwalliser in der aktuellen Situation leben und sie erleben. Die Reportage erschien ursprünglich am 14. April 2020 online und in der Printausgabe.