Kühler Kopf
Die Medien nennen ihn «Marathon-Mann» oder «Mr. Coronavirus». Wer ist Daniel Koch, der Mann, der in zu weiten Anzügen und mit zu breiten Krawatten vor die Medien tritt, stoisch Hiobsbotschaften überbringt und gleichzeitig zum Gewissen einer ganzen Nation avancierte?
Die kurze Antwort: Daniel Koch, der kürzlich 65 Jahre alt wurde, war Leiter der Abteilung für Übertragbare Krankheiten im Bundesamt für Gesundheit (BAG). Und ist Walliser. Einer von uns.
Um Daniel Koch zu beschreiben, bedarf es aber eines ausführlicheren Erklärungsversuchs, abseits von Lokalpatriotismus und regionalem Heldentum.
Das Gewicht der Pandemie auf den Schultern
Als Daniel Koch am 25. Februar dieses Jahres erstmals ins Rampenlicht der Scheinwerfer im bundeshauseigenen Medienzentrum tritt, fängt sein Wandel vom Chefbeamten zum «Schattenbundesrat» an. «Einen ersten Fall haben wir erwartet und nun ist er eingetroffen», sagte er auf Hochdeutsch mit unverkennbar berndeutschem Einschlag, stoisch und bodenständig, weitab von perfektem Bühnendeutsch.
Mühelos wechselt er beim Gespräch vor einigen Tagen vom breitesten Berner Dialekt ins Walliserdeutsche. Eine Angewohnheit, die er in Gesprächen mit Oberwallisern beibehält. Ich verliess das Wallis sehr früh», sagt er. Als 14-Jähriger besuchte er die Schule in Bern, «da war es zu kompliziert, den Dialekt zu behalten. Deshalb habe ich Fremdsprache gelernt», sagt er und lacht. 30 Minuten gewährt Daniel Koch am Telefon. Er ist derzeit viel beschäftigt und respektiert das «Social Distancing», das er selbst predigt.
20 278 positiv Getestete, 540 Todesfälle und 435 Patienten, die künstlich beatmet werden müssen, muss er an diesem Samstag Anfang April vermelden. Er liest die Zahlen über das Blatt gebückt ab, fast sieht es aus, als ob die Last der Pandemie und der letzten Wochen wortwörtlich auf seinen Schultern lastet. Die Augenringe dunkler, das Barthaar länger, das Pflaster auf seiner Stirn ist weg, eine feine Narbe bleibt. «Ich bin in eine Tür gelaufen», sagte er.
Ein Walliser im Exil
Was bleibt, sind auch die unsichtbaren Narben seiner Kindheit. 1962 verliert Daniel Koch als Siebenjähriger beide Eltern. Seine Mutter Gertrud Koch-Ueltschi stirbt im Februar «nach langem, mit grosser Geduld ertragenem Leiden, im Alter von 41 Jahren» in Bern, heisst es in der Todesanzeige in dieser Zeitung vom 12. Februar 1962. Und «in den späten Abendstunden des vergangenen Samstags», steht im «Walliser Boten» vom 9. Juli 1962, «ist Dr. Pius Koch zum letzten Male nach Visp gekommen: diesmal in Schwarz und umgeben von seinen Freunden, die um einen Toten trauerten». Er starb 44-jährig im Bürgerspital von Basel, nach «unerbittlicher Krankheit».
Trotzdem behält Daniel Koch gute Erinnerungen ans Wallis. An jenen Kanton, in dem er am 13. April 1955 als zweitältester von drei Söhnen auf die Welt kommt. Während die Eltern gemeinsam in der heute von Dr. Christoph Kaisig geführten Arztpraxis in Visp arbeiten, besucht Daniel Koch den reformierten Kindergarten in Visp, später die Primarschule in Brig.
Nach dem Tod ihrer Eltern wohnen Daniel Koch und sein mittlerer Bruder bei Dr. Andereggen in Brig. Der jüngste Bruder kommt zu einer Familie Heynen aus Ausserberg, die im selben Haus wohnt. Daniel Koch beendet die Primarschule in Brig und absolviert zwei Jahre am Kollegium Spiritus Sanctus, bevor er die Schule im Kollegium Schwyz und in Biel abschliesst und anschliessend ein Medizinstudium an der Universität Bern absolviert. Einige Jahre später folgt eine zeitweilige Rückkehr ins Wallis, wo er während rund zweieinhalb Jahren als gynäkologischer Assistenzarzt bei Dr. Ruppen im Spital Wallis arbeitet. Noch heute ist Koch verbunden mit dem Wallis, hat hier aber keine Verwandten mehr und nur wenig Bekannte. Auch ein pied-à-terre, das eine regelmässige Rückkehr zu seinen Wurzeln vereinfachen würde, hat Koch nicht.
Koch hat einiges erlebt in seinem Leben. Vierzehn Jahre arbeitete er beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz IKRK. Zu Beginn auf dem Terrain in Lateinamerika, später in Uganda und Südafrika. Vom Genfer Desk aus war er als medizinischer Verantwortlicher für Afrika tätig und besuchte den Kontinent gelegentlich. 2002, kurz vor der SARS-Pandemie, stiess Koch zum BAG, erlebte hier auch schon die Vogelgrippe H1N1 und die letzte Influenza-Pandemie.
Als Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten des BAG tritt Koch jeweils mit ernster Miene vor die Presse. Von ehemaligen Weggefährten wird er aber als ausgelassene Person beschrieben, fröhlich und gesellig. Koch lacht. «Man muss das Berufs- vom Privatleben trennen können», sagt er, «und ich versuche meinen Job so professionell wie möglich zu machen.» Zuweilen punktet er mit trockenem Humor. Als ein Journalist während eines Point de Presse nachhakte und von Koch wissen wollte, ob er seinen Gebrauch des Konjunktivs im Hinblick auf die allfällige Herstellung von Corona-Tests erklären könnte, antwortet Koch, ohne mit der Wimper zu zucken: «Nein, ich bin nicht Sprachwissenschaftler. Deshalb kann ich Ihnen den Konjunktiv nicht erklären.» Das Video wurde schon nur auf YouTube mittlerweile über 55 000 Mal angeschaut und machte aus Koch ein Internetphänomen.
Kein Schattenbundesrat
Erste Rufe nach der Auszeichnung als «Schweizer des Jahres» liessen nicht lange auf sich warten. «Das wäre erstens zu viel der Ehre und zweitens gibt es diese Auszeichnung, soweit ich weiss, gar nicht mehr», sagt Koch. Der Spruch sitzt – und Koch hat recht. Die «SwissAward»-Gala des Schweizer Fernsehens SRF wurde nur von 2002 bis 2015 ausgestrahlt, dann wurde das Programm und mit ihm der Preis abgesetzt. «Ich mache meine Arbeit nicht, um Preise zu gewinnen», sagt Koch.
Die Sympathien der Bevölkerung gegenüber der Person Koch hängen indes an einem seidenen Faden. Die Bevölkerung spielt mit, die Massnahmen greifen, die Infektionsrate steigt nicht mehr exponentiell. Wäre es umgekehrt oder sollte sich die Situation dereinst wieder verschlimmern, könnte sich das Plus rasch in ein Minus verwandeln. Ein Damoklesschwert über Kochs kahlem Kopf – das ihn gleichgültig lässt. «Ich mache meinen Job nicht für die Gunst der Bevölkerung», sagt er, «und ich mache ihn vor allem nicht alleine.» Er könne auf die Unterstützung eines «riesigen Teams» zurückgreifen und «ich bin bei Weitem nicht die wichtigste Person.» Wenn überhaupt jemand ein Verdienst habe, dann sei es die Regierung, die extrem seriös, gewissenhaft und verantwortungsvoll handle. Die Regierung, zu der Koch als «Schattenbundesrat» schon selbst gehören soll, so die Deutung vieler Medien.
Koch selbst relativiert seine Rolle. Er sei lediglich Informationsübermittler und Berater in dieser einen Sache. «Der Bundesrat muss nicht mir folgen, sondern ich ihm», sagt er. Er lege nur seine Sicht dar und beantworte Fragen. «Schattenbundesrat bin ich mit Sicherheit nicht. Das kann ich Ihnen garantieren.»
Trotz der sich täglich verändernden Lage kann Koch vollständig hinter den Massnahmen stehen, die der Bundesrat nach Diskussion mit seinem Amt erlassen hat. «Es sind nicht die Massnahmen, die machen, dass wir diese Epidemie erfolgreich bekämpfen», sagt Koch, «letztlich ist es das Verhalten der Menschen, das die Infektionen zurückgehen lässt.» Die Schweizer Bevölkerung unternehme extreme Anstrengungen, um die Massnahmen umzusetzen. «Davor kann ich nur meinen Hut ziehen», sagt Koch. Schliesslich sei es die grösste gesundheitliche Krise der letzten 100 Jahre – nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. «Da muss man schon Achtung haben vor der Bevölkerung, die die Situation erträgt und mitträgt.» Nur dank ihr konnte die Kurve der Neuinfektionen abgeschwächt werden.
Pensionierung aufgeschoben
Mittlerweile hat Daniel Koch die Leitung der Abteilung Übertragbare Krankheiten an Stefan Kuster abgegeben. Bis auf Weiteres bleibt er Delegierter des Bundesrats für COVID-19. «An meiner Arbeit ändert sich nicht viel. Stefan Kuster übernimmt die Leitung der Abteilung, die ich de facto seit Wochen nicht mehr wahrnehmen konnte, weil es zeitlich nicht mehr möglich war», so Koch.
Die aktuelle Situation sei aufgrund ihrer Grösse und der Aufmerksamkeit, die sie verlange, sicherlich die grösste Herausforderung seines Arbeitslebens. «Sie hat meine Position in meinem privaten und professionellen Umfeld total verändert», sagt er. Als Abteilungsleiter sei man selten in einer Sitzung mit dem Bundesrat, «das hat sich massiv schnell geändert». Ungewohnt und anpassungsbedürftig sei die Situation, sagt er. So streng, wie in den Medien kolportiert, seien seine Arbeitstage indes nicht. «Sie sind streng, aber überschaubar», sagt er, «ich bin nicht auf dem Weg, mich zu überarbeiten.» Nur die Freitage, die seien derzeit ein wenig knapp bemessen.
Und dabei hätte Koch, wäre die Situation «normal» geblieben, Ende April pensioniert werden sollen. Nun wird dies aufgeschoben. «Ich müsste nicht weiterarbeiten», sagt er, «aber ich möchte, und es wurde explizit gewünscht.» Auf diesen in der Zukunft liegenden Tag freut sich Daniel Koch trotzdem, ja doppelt sogar. Wenn er nach diesen intensiven Wochen und Monaten den Ruhestand antritt, bedeutet das gleichzeitig, dass die Schweiz über den Berg, die Pandemie grösstenteils überstanden ist. Es wäre ihm und der Schweizer Bevölkerung zu gönnen, dass dieses Kalenderblatt möglichst bald abgerissen werden kann.
Dieser Artikel erschien erstmals am 14. April 2020 im Walliser Bote und am Donnerstag 16. April 2020 in einer übersetzten Version bei den französischsprachigen Kollegen vom Le Nouvelliste.