Die Grande Dame, die es nicht gab
Ein Schriftstellerkollektiv aus der Romandie hat sich den Namen Ajar gegeben und einen Roman verfasst: ein gelungenes literarisches Verwirrspiel.
«Es ist vielsagend, wenn fast mehr über unsere Gruppe als über unseren Roman geschrieben wird», sagt Daniel Vuataz. Er sitzt mit Matthieu Ruf an diesem warmen Herbstnachmittag im Café «La Couronne d’Or» in Lausanne an einem alten Holztisch. Zwei von zwanzig, die das Schriftstellerkollektiv Ajar bilden. Und wer über ihren Roman reden will, der eine fiktive «Grande Dame der westschweizer Literatur» in den Mittelpunkt stellt, kommt um die ganz speziellen Umstände seiner Entstehung nicht herum.
Alles begann mit dem Literaturfestival «Québec en toutes lettres» im Jahr 2014. Es stand unter dem Motto «Doppelgänger und Pseudonyme». Die Gruppe, die seit zwei Jahren bestand, bewarb sich mit ihrem Projekt «Esther Mondandon» und wurde eingeladen. Nun musste eine Biografie der Autorin mitsamt Werken erfunden werden, bis hin zu jenem Erlebnis, das sie elf Jahre von der Literatur Abschied nehmen liess. Montandons Schreibmaschine, Füllfederhalter, Papierbögen und Briefe lagen in Québec in Glaskästen. Blättern konnte das Publikum auch in einer ersten Fassung von dem, was schliesslich der Roman «Unter diesen Linden» wurde.
«Am Ende des Literaturfestivals zerstörten wir die ganze Ausstellung in einer Performance», erzählt Daniel Vuataz. Nach der Rückkehr in die Schweiz wollte aber keiner mit dem Projekt «Esther Mondandon» aufhören.
Aus der Präsentation wurde ein Roman. «Vivre près des tilleuls. Par Esther Montandon» erschien 2016 im renommierten französischen Verlag Flammarion, die deutsche Übersetzung liegt jetzt vor. Es ist eine «Sammlung von Eindrücken, Geschehnissen und Erinnerungen» der fiktiven Schriftstellerin, die vom ebenfalls fiktiven Nachlassverwalter Vincent König zusammengestellt wurde.
Es geht vornehmlich um die Jahre 1956-1962, die Zeitspanne zwischen der Geburt der Tochter Louise, ihrem Unfalltod und den Versuchen, ihn zu verarbeiten. Zehn Jahre hatte Esther Montandon ihren «Menstruationskalender mit allen Daten» im Schlafzimmer hängen, bis sie endlich Mutter wurde. Umso heftiger trifft sie der Tod des Mädchens. Er schlägt sich nur in zwei kurzen Fragmenten nieder, als ob er ein Loch in die Erinnerungen Montandons gerissen hätte.
Ajar – der Name des Kollektivs – ist einerseits das Akronym für «Association de jeunes auteur-e-s romandes et romands». Ajar war aber auch das Pseudonym des französischen Schriftstellers Romain Gary, der unter diesem «nom de plume» zum zweiten Mal den Prix Goncourt gewann (was eigentlich das Reglement verbietet) und Literaturdektektive jahrelang über seine Identität in die Irre führte.
Auch das Kollektiv Ajar liebt das Verwirrspiel. Mit Genuss legten sie falsche Fährten. «Wir durften auf der Internetseite des Schweizer Literaturjahrbuchs Viceversa eine Biografie von Esther Montandon publizieren, inklusive einer Werkliste. Auch diverse Bibliotheken und Verlagshäuser liessen uns Hinweise über die Autorin und ihre Werke veröffentlichen. So stiess der interessierte Besucher selbst bei einer Google-Suche auf die Spuren Montandons», erklärt Ruf.
Wie schreibt ein Kollektiv aber einen Roman? In kleinen Arbeitsgruppen. Eine suchte Details zur Biografie, eine andere machte sich Gedanken zum Schreibstil von Esther Montandon, eine die sich um die früheren Werke der Autorin kümmerte. Im Sommer 2014 traf man sich im grösseren Kreis, um die Fragmente zu verfassen.
«Das war das erste Mal, dass wir uns zum Schreiben in einer solch grossen Gruppe zusammengefunden haben. Meist ist die Dropbox unser Treffpunkt», erklärt Vuataz. In einem zweiten Schritt wurden die Fragmente von einem Kernteam gegengelesen und gnadenlos redigiert. Dafür sei das Vertrauen der Mitautoren äussert wichtig gewesen; die Interessen des Projekts standen immer vor den Interessen der einzelnen Verfasser.
«Mit Alix Penent d’Izarn, unserer Verlegerin bei Flammarion, hatten wir anschliessend einen interessanten Dialog über die Veränderungen und Verbesserungen, die wir dem Roman noch anzufügen hatten», so Matthieu Ruf. Der Verlag bestand darauf, das Verwirrspiel am Schluss aufzulösen. «Am meisten Mühe hatten wir deshalb beim Verfassen des Epilogs», erklärt Matthieu Ruf. Das Ergebnis der kollektiven Arbeit: eine Liebeserklärung an die Literatur und ihrer Möglichkeitsformen, in Gestalt einer an die Wirklichkeit äusserst angenäherten fiktiven Figur. Vuataz: «Den Schlusssatz des Epilogs hätte unsere Verlegerin nicht besser finden können, da der vorliegende Roman es bestätigt: ‘Fiktion ist absolut nicht das Gegenteil des Wirklichen!’»
Dieser Text erschien erstmals am 17. November 2017 im Tages-Anzeiger.