«Ich würde mehr bezahlen, um in bemalten Zügen herumzufahren»
Patrick Frey unterstützt illegale Sprayer-Kunst. Im Interview sagt er, warum.
Herr Frey, Sie sind starker Verfechter der Ansicht, dass es sich bei den Graffiti von KCBR um Performance-Kunst handelt. Wieso?
Es handelt sich jedenfalls um Kunst im öffentlichen Raum. Diese ist ein Sorgenkind der Gegenwartskunst, da die meisten Skulpturen den öffentlichen Raum eher versperren als verschönern und zunehmend den Eindruck erwecken, überflüssig zu sein. Interessant finde ich nur noch soziale Kunst im öffentlichen Raum und Kunst, die intensiv mit den räumlichen Gegebenheiten in einen Dialog tritt. Ansonsten ist Kunst im öffentlichen Raum eine kreative Brache. KCBR hingegen macht hervorragende urbane Kunst, die sich zudem bisher vom kommerziellen Sog freihalten konnte. Die Kunst von KCBR findet nicht nur im sozialen Raum statt, sondern wird auch dort wahrgenommen und besprochen – und zwar nicht primär von der Kunstkritik.
Bisher bemalten KCBR Züge und Fassaden. In der ersten Szene zum neuen Film «Live Life Like Girls» verschaffen sich die Sprayerinnen Zugang zu einem SBB-Waggon, bedienen sich im Zug-Bistro und rauchen am Tisch. Wurde damit nicht eine rote Linie überschritten?
In der Schweiz werden Verletzungen des Eigentumsrechts unglaublich hoch eingestuft. Das war schon damals bei Harald Nägeli nicht anders, der dafür zu höheren Geldstrafen verurteilt wurde als für eine einfache Körperverletzung. Interessant ist ja, dass die Empörung über den sogenannten Einbruch viel höher ist als über die Bemalung der SBB-Waggons. Für mich gehört diese Szene zur Dramaturgie des Films und ich habe ihr keine grössere Bedeutung zugemessen.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Kunst und Schmierereien?
Das Problem ist, dass «Schmierereien» bereits eine klar abwertende Bezeichnung ist. Wer von Schmierereien spricht, impliziert bereits, dass das Ergebnis minderwertig und schlecht ist. Historisch gesehen wurden auch die ersten Graffiti von Banksy oder Harald Nägeli als Schmierereien bezeichnet. Deshalb ist es für mich ein Ausdruck, der nicht mehr verwendet werden sollte. Es geht darum, ob die Graffiti gut sind, ob sie interessant sind, welche Haltung dahintersteckt und mit welcher Perfektion sie ausgeführt wurden. Deshalb stellt sich für mich die grundsätzliche Frage, ob überhaupt eine Sachbeschädigung vorliegt oder ob es nicht einfach um einen Kostenaufwand für die Reinigung geht. Wie in der Kunst allgemein ist der Kontext entscheidend: Wie gehen KCBR vor, von der Aktion zum fertigen Film – und da, hinsichtlich kreativem Output und Logistik spielen sie in einer ganz eigenen Liga.
Die SBB hält sich mit konkreten Zahlen zu Reinigungskosten bedeckt, sagt aber, dass die Kosten auf die Ticketpreise abgewälzt werden. Können Sie so etwas gutheissen?
(lacht) Das müssen Sie die SBB fragen. Ich – der diese Kunstform schliesslich gutheisse – würde aber gerne 10 Rappen mehr pro Billett zahlen, damit ich in schön bemalten Zügen durch die Gegend fahren könnte. Mich würde es ja wundernehmen, wie die Reaktionen wären, falls die SBB die vollbemalten Züge sechs Wochen herumfahren lassen würden. Ich bin überzeugt, dass es für ein riesiges, positives Medienecho sorgen würde, wenn sie den Spiess umdrehten. Inklusive der Möglichkeit, dass KCBR den Reiz dadurch verlieren könnte, Züge vollzumalen. Die Kosten wegen Vandalismus beliefen sich 2016 auf 5,6 Millionen Franken – Peanuts im Vergleich zu anderen Aufwänden. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Die Diskussion, ob sich die Reinigungskosten auf die Billettpreise niederschlagen, steht nicht im Zentrum, wenn man von Kunst spricht.
Graffiti-Kunst braucht und nutzt den Freiraum, der ihrem Wesen entspricht. Und zwar nicht von Amtes wegen zur Verfügung gestellte Freiheit wie bei legalen Plätzen, sondern im Sinne von Autonomie: in selbstbestimmter Freiheit zu handeln.
Würden Sie eine Entkriminalisierung begrüssen?
Am Dispositiv würde ich nichts ändern. Zur legalisierten Kunst habe ich ein gespaltenes Verhältnis. Streetart als Stadtverschönerung oder -marketing ist okay, aber eine völlig andere Baustelle. Selbst wenn Graffiti entkriminalisiert würden, wäre immer noch irgendetwas anderes illegal und dadurch reizvoll, um die provokative Energie beizubehalten und das Spiel weiterzuspielen. Bei den von Autonomen besetzten Häuser in Berlin lässt man es beispielsweise zu, dass sie einfach vollgesprayt werden, aber danach ist Ruhe. Das ist die umgekehrte Strategie zur Broken-Windows-Theorie, bei der alles Kaputte direkt ersetzt, alles Bemalte gleich gesäubert wird. Da diese allem Anschein nach aber nicht funktioniert – KCBR machen sexy Videos mit vollbemalten Zügen und globaler Ausstrahlung – sollte man die Graffiti vielleicht einfach eine Zeit lang stehen lassen. Nicht legalisieren, aber nutzen. Die SBB als kulturelle Plattform wäre ein Konzept, das ich sehr interessant finden würde.
In Schweizer Städten gibt es viele Plätze, an denen Graffiti legal sind. Reichen die nicht aus?
Wieso sollen sich Kinder beim Spielen auf Kinderspielplätze beschränken? Das ist eine Abrichtung und Einteilung des öffentlichen Raums, die mir grundsätzlich missfällt. Diese Haltung entspricht einer künstlerischen Haltung und der Freiheit der Kunst in keiner Weise, steht ihr sogar diametral entgegen. Graffiti-Kunst braucht und nutzt den Freiraum, der ihrem Wesen entspricht. Und zwar nicht von Amtes wegen zur Verfügung gestellte Freiheit wie bei legalen Plätzen, sondern im Sinne von Autonomie: in selbstbestimmter Freiheit zu handeln.
Sie haben vor fünf Jahren das Buch «Live Life Like» von KCBR herausgegeben. Wie eng ist der Kontakt zu den Sprayern?
Es gab und gibt keinen direkten Kontakt zu den Sprayern. Das Material wurde Daniel Ryser zugespielt, zu jenem Zeitpunkt Reporter bei «Das Magazin». Er hat uns dann kontaktiert, da er unseren Verlag Edition Patrick Frey als geeignet empfunden hat. So ist das Material zu uns gekommen. Die Massnahmen, die KCBR treffen, um ihre Anonymität zu bewahren, sind sehr wasserdicht.
Haben Sie nach der Veröffentlichung des ersten Buches Besuch von der Polizei erhalten?
Gar nicht. Und das ist auch nachvollziehbar. Wir sind nur die Verleger des Buches.
Wurden Sie für ein Buch zum neuen Film kontaktiert?
Nein, bisher nicht. Das erste Buch «Live Life Like» ist praktisch ausverkauft, vielleicht machen wir davon eine zweite Auflage. Vielleicht ergibt sich etwas, falls wir kontaktiert werden und das Bildmaterial wieder so toll ist. Dann bin ich sofort bereit.
Dieses Interview erschien erstmals am 19. Januar 2018 im Tages-Anzeiger.