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«Wir sollten in der Klimapolitik noch schärfere Forderungen stellen»


«Wir sollten in der Klimapolitik noch schärfere Forderungen stellen»

Er bezeichnet sich als alter Linker mit einer Liebe für Berge und Natur und politisiert im Gemeinderat seiner Heimat Morges VD für die SP. Sein Fokus aber liegt ganz klar auf der Klimapolitik. Wir haben den Nobelpreisträger nach seinem Besuch am Kollegium Spiritus Sanctus nach Sitten zurückbegleitet – selbstverständlich im Zug.

Ein gefragter Mann. Zehn Jahre nach seiner Emeritierung wurde Jacques Dubochet durch den Nobelpreis in die Öffentlichkeit katapultiert. Foto: WB/Andrea Soltermann

Ein gefragter Mann. Zehn Jahre nach seiner Emeritierung wurde Jacques Dubochet durch den Nobelpreis in die Öffentlichkeit katapultiert. Foto: WB/Andrea Soltermann

Jacques Dubochet, über Sie wird erzählt, dass Sie versuchen, Ihren Mitmenschen Wissen zugänglich zu machen, indem Sie Artikel aus Fachzeitschriften in eine einfache Sprache umschreiben. Wie erklären Sie Ihr Nobelpreisthema auf diese Weise?

«Wir Menschen bestehen grösstenteils aus Wasser. Wasser kann in der Elektronenmikroskopie nicht untersucht werden, da es verdampft. Die zum Herstellen der Präparate nötige Trocknung lässt die Forschung an ihre Grenzen stossen. Wir haben ein Verfahren entwickelt, das es erlaubt, kleinste Wassermengen so einzufrieren, dass sie die Struktur des flüssigen Wassers beibehalten. Dadurch können wir Präparate in ihrem natürlichen Zustand beobachten.»

Und wozu dient dies?

«Wir bewegen uns bei der Kryo-Elektronenmikroskopie im Rahmen der Molekularbiologie. Kleinste Elemente wie Atome oder Proteine können dreidimensional abgebildet werden. Dadurch konnte schon beobachtet werden, wie Salmonellen in eine Zelle eindringen oder sich Bakterien gegen Antibiotika rüsten.»

Sie setzen sich allgemein für Bildung ein, sei es durch Unterricht für junge Migranten oder Vorlesungen an der Seniorenuniversität «Connaissance 3». Woher rührt dieser Drang, Wissen breit gefächert zu vermitteln?

«Weil Bildung ein Allgemeingut ist und alle davon profitieren sollten. Hier muss ich aber differenzieren: Bei den jungen Migranten dient der Unterricht vor allem der Integrationsarbeit, wöchentlich eine Stunde. Die Begegnung zweier Menschen überwiegt.»

Auch sind Sie ein grosser Verfechter der Interdisziplinarität und haben an der Universität Lausanne einen obligatorischen Ethikkurs in Biologie eingeführt. Wieso ist dies so wichtig?

«Die Universität schränkt heute ihre Studierenden in ein Fachgebiet ein. Die grösste Offenheit gegenüber der Interdisziplinarität und allgemein gegenüber der Welt haben die Jungen heute am Kollegium. Dort werden sie noch nicht spezifisch, sondern allgemein gebildet. Bei mir war dies der Moment, als alles explodierte. Es verstört mich zu sehen, wie eng das Weltbild der meisten heute ist.»

In Ihrem Lebenslauf schreiben Sie, dass Ihre wissenschaftliche Karriere als 7-Jähriger im Wallis begonnen hat. Welches waren Ihre ersten Experimente?

«Wir haben halt ein bisschen herumprobiert. Mit einer Lupe haben wir Zündhölzer zum Brennen gebracht und so weiter. Es stimmt, dass ich seit jungen Jahren alles verstehen wollte und das hat damit angefangen, dass wir eben herumexperimentierten.»

Sie sind einige Jahre in Nendaz, später in Sitten aufgewachsen. Hat das Wallis Ihr Umweltbewusstsein geprägt?

«Es ist ein Segen, als Kind die Natur im Printze-Tal gelebt und erlebt haben zu können. Es ist halt schon ein Unterschied, ob jemand mit der Natur aufgewachsen ist oder nur die Stadt gesehen hat. Sicherlich hat das auch zu meinem Umweltbewusstsein beigetragen, da Natur nur durch die Interaktion mit ihr verstanden werden kann. Erst später entstanden daraus philosophische Überlegungen zu diesem Thema.»

«Rein wissenschaftliche Argumente berühren nicht. Wir verstehen mit dem Herzen, mit dem Bauch. Nicht mit dem Kopf»
— Über das stärkste Argument gegen Klimaskeptiker

Sie sind im Komitee für die Gletscherinitiative, attestieren dieser aber auch gewisse Schwächen. ­Inwiefern?
«Die Initiative verlangt die Umsetzung des Abkommens, das an der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 beschlossen wurde, sprich die Begrenzung der globalen Erwärmung auf deutlich unter 2° C bis im Jahr 2050. Nun geht heute aber alles so schnell, dass wir deutlich schärfere Forderungen stellen sollten. Die Klimajugend beispielsweise fordert die Erreichung der Ziele bis 2030. Das Ziel bleibt aber, dass die Initiative zustande kommt und angenommen wird. Würden wir die Erreichung der Ziele bis 2030 fordern, würden wir in der Schweiz – Stand heute – scheitern. Vielleicht sieht es in sechs Monaten aber wieder anders aus.»

Sie haben die Klimajugend ­angesprochen, die immer mehr fordert…
«Und das zu Recht! Vielleicht kennen Sie die Stellungnahme, die 12 000 Forscher aus der Schweiz, Deutschland und Österreich zur Unterstützung der Klimabewegung unterschrieben haben. Die Jugend kennt sich vielleicht nicht grundlegend mit den Details der Klimamodelle aus, deshalb geben wir Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen ihnen recht und unterstützen ihre Forderungen.»

Die Klimajugend fordert also zu Recht immer mehr. Sie sagten, dass die älteren Generationen von der Jugend lernen sollen, sind aber selbst Gründungsmitglied der Klima-Grosseltern Schweiz, die 2014 gegründet wurde. Sie waren der Jugend also einen Schritt voraus.
«Vielleicht, aber die Jugend gab es ja auch schon früher. Die Machtübernahme der Jugend in diesem Thema empfinde ich aber als eine grosse Chance für alle.»

Zu den Kollegiumsschülern haben Sie gesagt, das stärkste Argument gegen Klimaskeptiker sei jenes des Kindes, das seinem Vater Vorwürfe macht und damit ein schlechtes Gewissen verursacht…
«Nein, es geht nicht um schlechtes Gewissen. Es geht darum, dass das Kind seinen Vater vor seine Verantwortung stellt.»

Das ist ein sehr emotionales ­Argument und hat mich von einem Wissenschaftler wie Ihnen überrascht.
«Wollen Sie damit etwa sagen, dass wir Wissenschaftler keine Emotionen ­haben?»

Nein, die Frage war, gibt es kein stärkeres wissenschaftliches ­Argument?
«Sehen Sie, rein wissenschaftliche Argumente berühren nicht. Wir verstehen mit dem Herzen, mit dem Bauch. Nicht mit dem Kopf. Sobald wir etwas mit dem Bauch verstanden haben, können wir es auch im Kopf verstehen. Ein Auto wird auch nicht aufgrund von Fakten verkauft, sondern wegen den Emotionen, die es transportiert. Das ist tragisch, aber es ist so.»

Das Klima wird ja mittlerweile parteiübergreifend in den politischen Diskurs aufgenommen…
«Es kommt langsam, ist aber weiterhin schwierig. Denn die politische Ordnung ist etabliert. Auch in meiner eigenen Partei, der SP, hapert es ziemlich. Es ist ein enormer Ballast, der da getragen werden muss.»

Die jüngsten Wahlerfolge der Grünen zeigen aber, dass das Thema politisch wichtiger wird. Nun hat auch die FDP Klimaziele ins Parteiprogramm aufgenommen. Ist das nicht opportunistisch?
«Sehen Sie, das Programm der FDP zielt auf die Eigenverantwortung jedes Einzelnen ab, dass Unternehmen Verantwortung übernehmen. Ich hoffe, dass Frau Gössi es schafft, ihre Partei aufzurütteln.»

Also ist die Ergreifung des ­Themas durch die FDP letztlich eine Chance?
«Ich denke, dass es eine Chance für die Partei darstellt und ihre Forderungen nicht im vornherein verworfen werden sollten. Schliesslich müssen wir mit ­ihnen zusammenarbeiten.»

Auch eine Chance für die ­Klimaforderungen?
«Ja, sicher.»

Sie selbst politisieren im Gemeinderat von Morges für die SP. Ihre Themen sind Energie, nachhaltige Entwicklung und die Umwelt. Wieso sind Sie kein Grüner?
«Das ist eine Angewohnheit aus alten Zeiten. Mein Frau war bei den Grünen und ich arbeite mittlerweile auch enger mit den Grünen zusammen als mit der SP. Gerade bei der Unterschriftensammlung für die Gletscherinitiative war bei uns nicht ein SP-Politiker anwesend.»

Sind Sie enttäuscht von der ­Klimapolitik der SP?
«Ja, absolut. Die SP ist überhaupt nicht genug engagiert in Klimafragen.»

«Ich liebe das Unbekannte, aber ich hasse Mysterien. Zu Letzteren gehören Trump und Gott»
— Über den kleinen, aber feinen Unterschied

Sie haben einmal gesagt, links zu politisieren sei intelligent, rechts egoistisch.
«Das habe ich ganz zu Beginn meiner Karriere als Interviewter gesagt. Ich unterschreibe diese Aussage aber nach wie vor.»

Können Sie erklären, wie Sie zu dieser Aussage kommen?
«In Alltagsentscheidungen gibt es zwei diametral entgegengesetzte Entscheidungsmöglichkeiten: Einerseits das Ich, das persönliche Interesse. Andererseits das kollektive Interesse. Also Egoismus oder Nächstenliebe. Es geht doch nicht, dass man nur egoistische Entscheidungen trifft, so kann man nicht überleben. Aber man kann auch nicht nur altruistische Entscheidungen treffen. Wir entwickeln uns aber nur weiter, indem wir uns innerhalb dieser Palette bewegen. Mein Verständnis des politischen Spektrums ist es, dass ein links politisierender Mensch sich eher dem kollektiven Interesse verschreibt. Ein Rechter handelt eher im Eigeninteresse. Die Definition ist sehr individuell, aber ich finde, dass meine sehr gut der politischen Realität entspricht.»

Jean Ziegler bezeichnete Sie als Vorzeigewissenschaftler: Bescheiden und immer von Zweifeln geplagt. Welche Zweifel plagen Sie heute?
«Wohin geht unsere Gesellschaft, in welcher Welt werden meine Kinder leben? Auch zu Trump, wie konnte es zu ­diesem Ausrutscher kommen? Ich bin voller Zweifel.»

Seit dem Nobelpreis würden alle Menschen glauben, was Sie sagen, sei wichtig…
«Ja. Und dass alles, was ich sage, besser ist, als was andere sagen könnten. Ich kann sagen was ich will, die Menschen erachten es heute als überaus wichtig. Das ist doch lächerlich.»

Sie werden also in eine Expertenrolle gedrängt, die heutzutage aufgrund von Fake News und
alternativen Fakten schwierig ­geworden ist.

«Ja, das beunruhigt mich. Das Vertrauen in die Politiker sinkt, in die Ärzte auch. Letztere beschweren sich über Patienten, die sich im Internet informiert haben und vermeintlich alles besser wissen. Das wird gefährlich. Es fehlt uns an Orientierung.»

Ist das dem Internet geschuldet?
«Man muss sicherlich vorsichtig sein. Ich merke es an der Diskussion über 5G. Ich kann mit manchen aus meinem Umfeld nicht mehr darüber sprechen, weil sie alles besser wissen. Dabei habe ich durch meinen Forschungsbereich eine klitzekleine Ahnung, wie sich elektromagnetische Wellen auf den menschlichen Körper auswirken. Die Diskussionspositionen werden immer wie ­festgefahrener.»

Sie sagten, die Hälfte Ihrer Arbeit an der Universität bestünde da-rin, Ihre Studierenden zu ebenso guten Bürgern wie Biologen zu machen. Sind wir nicht gute ­Bürger genug?
«Als ich an der Universität Lausanne die interdisziplinäre Lehre von Biologie und Gesellschaft eingeführt habe, war das eine Pionierleistung. Es ist zwar nur eine Stunde pro Woche, aber sie ist zumindest obligatorisch. Darin werden ethische Fragen der Biologie thematisiert. Die Mediziner waren uns da einen Schritt voraus und haben die Ethik schon früher in den Lehrplan aufgenommen. Dabei ist es doch uner-­lässlich, sich mit ethischen Fragen auseinanderzusetzen. Wobei dies früher noch viel gängiger war. Wissenschaftler der alten Garde waren gegenüber sozialen Problemen viel sensibilisierter. Mit der immer fortwährenden Spezialisierung auf ein Gebiet und dem Konkurrenzkampf ist das bis heute ­verloren gegangen.»

«Zu verstehen war meine Art, meine Ängste zu bewältigen», sagten Sie einmal. Was verstehen Sie noch heute nicht?
«Es gibt vieles, was ich nicht verstehe. Ich liebe das Unbekannte, aber ich hasse Mysterien. Das Unbekannte kennt man noch nicht, kann es aber ergründen. Das Mysterium hingegen ist etwas fundamental Unzugängliches. Trump ist für mich ein Mysterium und das finde ich beängstigend und gefährlich. Zu den Mysterien gehört auch Gott. Der ist aber nicht gefährlich.»

Sie glauben aber auch nicht an Gott.
«Nein, ich glaube nicht an Gott. Es gibt ja Agnostiker und Atheisten. Der Agnostiker kann die Frage, ob es Gott gibt, nicht beantworten, der Atheist glaubt nicht an Gott. Wie stehen denn Sie dazu?»

Ich versuche noch, diese Frage für mich zu beantworten, wäre wohl aber ein Agnostiker, weil ich nicht weiss, ob Gott existiert.
«Na dann, viel Glück. Ich kann gut ­nachvollziehen, dass Sie sich diesen ­Fragen stellen. Ich bin aber überzeugt, dass das Bedürfnis nach etwas Höherem ein zutiefst menschliches Bedürfnis ist, das zur Bildung der menschlichen ­Intelligenz notwendig war.»


Zur Person

Jacques Dubochet wurde im Oktober 1941 «von optimistischen Eltern gezeugt», wie er in seinem Lebenslauf schreibt – also mitten während dem Zweiten Weltkrieg. Geboren wurde er am 8. Juni 1942 in Aigle. Dubochet verbrachte einen Teil seiner Kindheit im Wallis, in Nendaz und Sitten, wo sein als Bauingenieur tätiger Vater Arbeit gefunden hatte.

Später zog die Familie Dubochet ins Waadtland, wo Jacques mit 14 Jahren als erster Schüler im Kanton die offizielle Diagnose Dyslexie bekommt – eine Leseschwäche. Dubochet studierte Physik an der Polytechnischen Hochschule der Universität Lausanne und promovierte in Genf und Basel in Biophysik. Dubochet ist seit 2017 emeritierter Professor.

Für ihre Leistungen in der Kryo-Elektronenmikroskopie wurde Dubochet und zwei weiteren Forschern im Dezember 2017 der Nobelpreis in Chemie verliehen. Dubochet ist der achte Schweizer Chemie-Nobelpreisträger und, wenn man die eingebürgerten Preisträger berücksichtigt, insgesamt der 28. Schweizer Nobelpreisträger überhaupt.


Dieses Interview erschien erstmals am 29. Mai 2019 im Walliser Bote.

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