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«Boni sind gut, aber es braucht strukturelle Veränderungen»


«Boni sind gut, aber es braucht strukturelle Veränderungen»

Die Feier zu Ehren ihres Doctor honoris causa musste aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden. Andere Punkte beschäftigen Elisabeth Joris während diesen Zeiten aber bedeutend stärker.

Über Solidarität. «Menschen sind an und für sich hilfsbereit und nicht per se egoistisch», sagt Elisabeth Joris. Archivbild mengis media/Andrea Soltermann

Über Solidarität. «Menschen sind an und für sich hilfsbereit und nicht per se egoistisch», sagt Elisabeth Joris.
Archivbild mengis media/Andrea Soltermann

Die tiefen Löhne und die fehlende Wertschätzung der sogenannten «systemrelevanten Berufe» beispielsweise. Ein Gespräch über die fehlende Anerkennung dieser Branchen, die neue Bedeutung der Solidarität und die Chancen der Krise für die Gesellschaft.

Elisabeth Joris, zu Beginn der Krise klatschten viele für das Ärzte- und Pflegepersonal, um Solidarität zu bekunden. Mittlerweile fordern Politiker finanzielle Belohnungen, Linke etwa Boni. Ist dies nachhaltig?

«Mit den Boni bin ich total einverstanden. Sie sind aber etwas Einmaliges und bringen keine strukturelle Veränderung. Im Pflegebereich könnte jedoch eine Bewegung entstehen, weil die Frauen – und es sind mehrheitlich Frauen – sehr gut organisiert sind. Ich kann mir also vorstellen, dass es dort Verbesserungen geben wird.»

Wo wird es schwieriger?

«Die Detailhandelsbranche ist mir ein Anliegen. Das aktuelle Problem ist, dass viele Betroffene durch die Kurzarbeit nur noch 80 Prozent verdienen. Bei den eh schon tiefen Löhnen ist das zu wenig. In dieser Branche braucht es unbedingt Lohnerhöhungen. Ein Faktum ist, dass gerade kleine Läden sagen, dass sie sich dies nicht leisten können. Das stimmt auch, aber dennoch ist es keine Entschuldigung.»

Wieso nicht?

«Ein zentraler Ausgabenposten sind die Ladenmieten. Aktuell sieht man, dass kleine Betriebe ihre Mieten nicht zahlen können. Statt auf die Löhne zu drücken, sollten die Mietzinse gedrückt werden. Gerade wenn man sieht, wie die Mietzinserhöhungen in den vergangenen Jahren rasant angestiegen sind und die Lohnerhöhungen im Vergleich x-fach übertroffen haben.»


Zur Person

Dr. phil. h.c. Elisabeth Joris, geboren 1946 in Visp, lebt als freischaffende Historikerin in Zürich. Ende April verlieh ihr die Philosophische Fakultät der Universität Zürich den Ehrendoktortitel und würdigte damit das «Lebenswerk einer bedeutenden freischaffenden Historikerin und Vorkämpferin der Frauen- und Geschlechtergeschichte im deutschen Sprachraum». Schon früh setzte sie sich mit Gleichberechtigung und Frauenrechten auseinander und vehement dafür ein.


Und im Care-Bereich?

«In den Pflegeberufen müssen wir uns die Frage stellen, wie das allgemeine Lohngefüge eigentlich bestimmt wird. Es ist historisch gesehen eine Konstante, dass jene Bereiche, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, entweder nicht oder nur schlecht bezahlt sind. Und dazu zählt noch ein anderer Sektor des Care-Bereichs.»

Nämlich?

«Die Kinderbetreuung. Auch dort sind Löhne, Absicherungen und Bedingungen schlecht. Und der ganze Bereich der Angestellten in Privathaushalten, das heisst Putzangestellte und Dienstpersonal, unterliegt seit Jahrzehnten einem Normalarbeitsvertrag und nicht ordentlichem Arbeitsrecht. Und das, obwohl die Schweiz die ILO-Konvention 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte 2014 ratifiziert hat, die die Gleichstellung der Arbeit im Privathaushalt mit den anderen Lohnarbeitsbereichen verlangt.»

Ihr letztes Buch behandelte den Detailhandel, der, wie viele andere Tieflohnbranchen, nun als systemrelevant gilt. Sind Sie zuversichtlich, dass die Schweiz etwas aus der Krise lernen wird?

«Die Schweiz als Ganzes gibt es für mich nicht. Es wird eine Frage des Kräftespiels, der Machtstrukturen. Wer kann wo wie viel Druck ausüben? Im hiesigen Machtgefüge sind die Tieflohnbranchen aber sehr schwach vertreten. Es ist deshalb wichtig, dass der Frauenstreik gerade letztes Jahr stattgefunden hat, weil es den Frauen ein stärkeres Gewicht gibt. Diese Stärkung hat sich bereits in Erfolgen bei den letztjährigen Nationalratswahlen niedergeschlagen. Daraus könnte im Pflegebereich Druck entstehen. Bei der Altersbetreuung und der im Privaten geleisteten Arbeit, die zu einem grossen Teil unsichtbare Arbeiten sind, die, wie man sehen konnte, systemrelevant sind, bin ich mir aber nicht sicher, ob es zu Verbesserungen kommen wird. Ich hoffe, dass zivilgesellschaftliche Organisationen Druck ausüben. Auch die Diskussionen über die Schwierigkeiten des Detailhandels wurden immer nur von Branchenorganisationen geführt und kaum von Organisationen der Arbeitnehmenden.»

«Statt auf die Löhne zu drücken, sollten die Mietzinse gedrückt werden.»

Was die systemrelevanten Berufe verbindet, ist, dass sie – nebst den tiefen Löhnen – überdurchschnittlich viele Frauen beschäftigen. Ein Armutszeugnis für die Schweizer Wirtschaft?

«Ein Armutszeugnis, ja. Es ist eine Langzeitwirkung der patriarchalen Ordnung, weil die Löhne von Frauen seit je vergleichsweise viel tiefer waren. Seit Ende des 19. Jahrhunderts brauchte es viel Druck der Frauen, damit die Anstellung in Privathaushalten überhaupt als Lohnarbeit definiert und erfasst wurde. Wenn Sie mich also fragen, ob die Schweiz etwas aus der Krise lernen wird, glaube ich, dass diese einen Lernprozess bei der Bevölkerung ausgelöst hat. Sie hat gesehen, worauf es effektiv ankommt. Kann aus dieser Erfahrung langfristig Druck auf die Politik ausgeübt werden, dann könnten die Machtkonstellationen beeinflusst werden.»

Der Kanton Zürich definierte systemrelevante Berufe, um zu bestimmen, welche Eltern Anspruch auf Kinderbetreuung haben. Wieder ein Tieflohn- und primär weiblich dominiertes Berufsfeld. Ein Rattenschwanz?

«Ja, deshalb sage ich, dass wir die Auswirkung der patriarchalen Gesellschaftsstrukturen in die Diskussion einbeziehen müssen. Für diese Reflexion ist die Geschichte essenziell. Die Geschichte der statistischen Erfassung der Volkswirtschaft beginnt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Erfasst im Bruttoinlandsprodukt wurde aber nicht der Wert der gesamten Arbeit. Nicht erfasst wurde vor allem jene von Frauen unbezahlt oder bezahlt geleistete Care-Arbeit in Privathaushalten. So wurden auch die Hausangestellten erst nach dem Ersten Weltkrieg als Lohnarbeiterin statistisch erfasst, der Wert der unbezahlten Hausarbeit sogar erst seit den 1990er-Jahren. Die geringe Einschätzung von Frauenarbeit hat also eine lange Geschichte und ist bedingt durch die patriarchale Sicht auf Arbeit, also systembedingt. Und Systemfragen sind Rattenschwanzfragen, die Wechselwirkungen gross. Deshalb bin ich skeptisch, ob aus den Erfahrungen wirklich bedeutende Verschiebungen entstehen. Und die brauchts.»

Gerade die Situation der Kinderkrippen war lange nicht klar. Anfang April wurde Bersets Hilfspaket für Krippen vom Bundesrat abgelehnt.

«Das hat ganz klar mit fehlendem Respekt, fehlender Anerkennung und Wahrnehmung zu tun. In den meisten Ländern sind Kinderkrippen ein öffentlicher Auftrag. Vor allem in der Deutschschweiz hingegen ist die Kinderbetreuung aus Tradition bis heute eine private Angelegenheit. Krippen sind in der Textilindustrie des 19. Jahrhunderts entstanden, in welcher der Betrieb ohne verheiratete Frauen und Mütter undenkbar war. Deshalb entstanden überall, wo sich die Textilindustrie niederliess, von den Fabrikantengattinnen oder gemeinnützigen Frauenvereinen gegründete Betreuungsangebote für Kinder der Arbeiterinnen – als reine Notlösung.»

«Die Chance der Krise besteht darin, dass gesamtgesellschaftlich darüber gesprochen wird, was relevant ist.»

Und dann?

«Mit der neuen Frauenbewegung kam die Forderung, dass alle Frauen zur Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung Angebote nutzen können. Das wurde allmählich gesellschaftlich akzeptiert, von Subventionen sollten aber nur Benachteiligte profitieren. In der Deutschschweiz ist dieses Mutterideal, in dem die Mutter für die Erziehung zuständig ist, noch sehr präsent: Will sie sich selbst verwirklichen, soll sie bezahlen. Deshalb wurde die Kinderbetreuung auch interessant für private Unternehmen. Dort geht es aber um Profitmaximierung, weswegen Löhne gedrückt werden.»

Die Krise untergrabe die Hierarchie der Berufe und führe zu wachsendem Bewusstsein für die Bedeutung vieler überwiegend weiblicher Berufe, sagte Mathias Reynard. Wie lange wird diese Wertschätzung nach der Krise noch anhalten?

«Dafür ist entscheidend, dass neben Parteien auch andere Gruppierungen und die Frauenbewegung am Thema bleiben. Es geht nicht nur darum, die Gleichstellung auf höchster Ebene in den Unternehmen zu erreichen, sondern darum, Bewertungen auf den Kopf zu stellen. Und das hängt nun mal vom Druck ab. Deshalb ist es richtig, wenn Mathias Reynard das Thema aufs politische Parkett bringt, es muss auf allen Ebenen aufs Tapet. Für mich wäre es das Schönste, wenn es einen Streik gäbe, denn nur durch solche Aktionen kann gezeigt werden, was relevant ist. Erfolgreiche Kämpfe hatten aber immer auch mit guter Organisation zu tun, und diese fehlt vielen Branchen heute.»

Am 1. Mai war der Tag der Arbeit. Krisenbedingt konnte er nicht oder nur beschränkt stattfinden oder gar nur im Internet. Hat dies genügend Schlagkraft?

«Schlagkraft nicht, nein. Schlagkraft erhält ein Thema erst, wenn darüber gesprochen wird. Ich habe den 1. Mai, an dem ich seit 1969 immer teilnahm, auch im Netz mitverfolgt. So einen komischen 1. Mai habe ich aber noch nie erlebt. Aber es war wichtig, dass er unter diesen Umständen im Netz überhaupt stattgefunden hat!»

«Die ‹Solidarität› hat eine neue Bedeutung erhalten, nachdem sie eine Zeit lang sehr negativ besetzt war.»

Der Slogan war: «Solidarität, mehr denn je!» Glauben Sie noch daran?

«Ich wohne im Zürcher Kreis 7, einem eher reichen Quartier, und war schon berührt, wie rasch Solidarität bekundet wurde. Schon zu Beginn der Pandemie erhielten wir Alten Hilfsangebote. Menschen sind ja an und für sich gerne hilfsbereit, davon bin ich überzeugt. Menschen sind nicht per se egoistisch. Solidarität bringt einem selbst ja auch etwas. Es ist doch eine Freude, Austausch zu erleben, Gemeinschaft zu erfahren. Ein elementares menschliches Bedürfnis würde ich sogar sagen. Das Wort Solidarität hat eine neue Bedeutung erhalten, nachdem es eine Zeit lang sehr negativ besetzt war und solidarische Menschen als die ‹Netten› oder naive ‹Gutmenschen› beschimpft wurden.»

Wird diese Krise mehr Chancen oder mehr Gefahren für die Gleichstellung bergen?

«Schwierig. An und für sich gibt es mehr Chancen, weil es wieder einmal eklatant wird, was zentral ist. In der Gleichstellungsfrage geht es aber darum, dass man am Ball bleiben muss, damit sorgfältige Evaluierung Wirkung erzeugt. Also nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern erkennen, dass in der Verteilung des Besitzes und des Vermögens generell riesige Unterschiede zwischen den Geschlechtern herrschen, in der Schweiz und weltweit. Die Chance besteht darin, dass gesamtgesellschaftlich darüber gesprochen wird, was relevant ist.»


Dieser Artikel erschien erstmals am 4. Mai 2020 im Walliser Bote.

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