«Vor der App sind nicht alle gleich»
Seit Mitte Mai läuft der Pilotversuch des «Swiss Proximity Tracing System» (SPTS), der Contact-Tracing-App des Bundes. Johan Rochel findet nicht alles gut daran.
Johan Rochel, seit Donnerstag ist die Verordnung zum Pilotversuch der «Swiss Proximity Tracing System» (SPTS) App in Kraft. Wie beurteilen Sie die App als Innovationsethiker?
«Mit konstruktiver Skepsis. Die Diskussion um die App ist innovationsethisch spannend. Die öffentliche Diskussion fokussiert aber sehr stark auf dem Datenschutz. Das zeigt, dass wir aus digitalen Entwicklungen der Vergangenheit gelernt haben. Die innovationsethische Frage wird rein mit dem Datenschutz aber noch nicht beantwortet. Andere Themen, gerade nicht technischer Natur, werden in der Debatte vernachlässigt.»
Wie beurteilen Sie die öffentliche Debatte?
«Sie muss zwingend stattfinden! Die breite Bevölkerung hat langsam den Reflex entwickelt, technische und technologische Entwicklungen nicht einfach hinzunehmen, sondern zu hinterfragen. Die Chance dieser Diskussion ist, dass wir alle dazulernen können.»
Muss über den Datenschutz noch gesprochen werden oder erübrigt sich diese Diskussion?
«Wir müssen unbedingt darüber diskutieren! Bei der App wurden Datenschutzüberlegungen bereits während der Konzeption und in der Grundstruktur der App berücksichtigt. Deshalb haben sich die ETH Zürich und Lausanne, die die App programmieren, von der europäischen Lösung distanziert, weil diese keine Transparenz garantierte. Aus Datenschutzperspektive wurde bei der SPTS-App das Beste gemacht, was möglich ist. Dies ist aber nicht die einzige Frage.»
Zur Person
Johan Rochel ist Co-Geschäftsführer des Lab für Innovationsethik «ethix» und Rechtsphilosoph an der Universität Zürich. Der 36-Jährige ist gewählter Verfassungsrat (Appel Citoyen) und ist dort Teil der Kommission 2, die sich mit Grundrechten, Sozialrechten und der Zivilgesellschaft befasst. Rochel wohnt in Monthey und Zürich.
Sondern?
«Was ist eigentlich der Beitrag der App zur Pandemiebekämpfung? Das ist letztlich die entscheidende Frage: Was erhoffen wir uns von der App, und zwar in realen Situationen? Das ist für mich noch nicht ganz klar. Wir gehen davon aus, dass die Technologie sicher etwas bringt. Sobald wir versuchen, den Beitrag zu definieren, wird’s schwammig. In der Diskussion kommt jeweils rasch das Totschlagargument der Leben, die gerettet werden könnten, und der Wirtschaft, die rascher hochgefahren werden kann. Bei den Zielen können wir uns rasch einigen, weil sie wichtig und legitim sind. Aber wir müssen den Beitrag der App zur Erreichung dieser Ziele näher verstehen.»
Wer muss dies definieren?
«Die Beweislast liegt beim Bundesamt für Gesundheit und beim Bundesrat. Hier ist die Frage nach der technologischen Versuchung wichtig. Es besteht der Eindruck, jedes Problem mit technologischer Innovation lösen zu wollen. Und da die App von ETHZ und EPFL entwickelt wird, wird davon ausgegangen, dass sie gut sein muss und etwas bringt.»
Also erwarten Sie so rasch wie möglich eine klare Definition dieses Beitrags.
«Ja. In der Verordnung über den Pilotversuch werden beim Zweck nur technische Aspekte berücksichtigt. Ich hätte darin lieber gelesen, dass wir testen wollen, was die App in realen Situationen in Bezug auf Pandemiebekämpfung, Gesundheit und Wirtschaft bringt.»
Weil es emotional sehr stark ist, aber schwammig.
«Genau. Und weil es zu schwammig ist, haben wir sofort ein Problem mit der Verhältnismässigkeitsprüfung. Weil wir nicht wissen, was zu prüfen ist. Leben retten, Wirtschaft fördern: Der Eindruck besteht, dass mit der App nun grundsätzlich alles gut wird. Dies ist für die Grundrechte extrem gefährlich, weil sehr viel damit gerechtfertigt werden kann.»
Kann die Überwachung der Bürger ausgeschlossen werden?
«Ja, der Datenschutz ist relativ unproblematisch. Diesbezüglich war die Lieferung von Standortdaten von Swisscom an den Bund viel gefährlicher. Der Staat wollte einen direkten Zugriff auf potenziell sensible Daten. Bei der App hingegen ist der Staat kein Teil des Systems, er überwacht nur die Rahmenbedingungen. Ich tendiere dennoch dazu, beim Begriff ‹Überwachung› zu bleiben.»
Also doch eine Überwachung?
«Ja, aber keine vertikale Überwachung vom Staat zum Bürger, sondern eine horizontale. Die Bürger überwachen sich untereinander, wenn auch anonym, indem sie Daten über das eigene Verhalten austauschen. Eine sehr spezielle Art von Überwachung, aber trotzdem eine. Ich habe noch keinen besseren Begriff dafür gefunden.»
Das ist aber ein starker Begriff.
«Es gibt einen Kampf um die Deutungshoheit der App. Der Begriff ist emotional sehr stark negativ aufgeladen, weil automatisch an die Überwachung durch den Staat gedacht wird. Mit der App ist die ‹Überwachung› aber gegenseitig. Der Staat ist nicht Teil der App, legitimiert die Nutzungsempfehlung aber mit Appellen an die Solidarität. Das ist schwierig und birgt eine beunruhigende Dynamik.»
Die App tauscht Daten aus, ohne dass Nutzer etwas merken. Kann man da wirklich von Überwachung sprechen?
«Ich bin derzeit in Kontakt mit relativ wenig Menschen, so wie viele von uns. Ich kann also relativ schnell herausfinden, wer am Ursprung einer Infektionsmeldung liegt. So kommen wir sehr schnell in die gegenseitige Überwachung oder Beobachtung. Dazu kommt, dass dieses Verhalten durch den Bundesrat legitimiert wird, weil er mich mit dem Zweck der Pandemiebekämpfung zur Dokumentation meiner Kontakte aufgefordert hat. Und dies führt zum dritten Problem: der Freiwilligkeit.»
Es gibt keinen Zwang, die App zu nutzen.
«Genau. Freiwilligkeit ist aber ein sehr anspruchsvolles Konzept und setzt zwei Punkte voraus: gute Information und die Abwesenheit von Zwang. Wie wird die Bevölkerung aufgeklärt darüber, was die App macht und was nicht. Wichtig ist, dass die Kommunikation nutzergerecht formuliert werden muss. Also nicht nur verständlich für Spezialisten und überdurchschnittlich interessierte Menschen, sondern auch für meine Grossmutter. Die Leute müssen aufgeklärt werden in einer Sprache, die sie verstehen. Nicht nur über die positiven Seiten, sondern auch über allfällige Risiken.»
Ist dies gewährleistet?
«Nein, noch nicht. Aber da muss man fair bleiben, weil wir uns im Pilotversuch befinden. Ich vertraue darauf, dass sich dies bei der Einführung der App für die Bevölkerung noch ändern wird. Wenn nur 10 Prozent der Bürger die App nutzen, weil die meisten sie nicht verstehen, können wir es auch gleich sein lassen.»
Weil 55 bis 65 Prozent der Bevölkerung die App nutzen müssen, damit sie etwas bringt.
«Genau.»
Der Erfolg der App basiert auf dreifacher Freiwilligkeit: Installation, Nutzung und Meldung einer allfälligen Infektion sind freiwillig.
«Dazu kommt noch ein weiterer Punkt. Und zwar, dass ich mich bei einer Infektion auch freiwillig in Quarantäne begebe. Die Frage nach der Freiwilligkeit wird der grosse Test für die App. Ich hoffe, dass die Menschen viel aufmerksamer miteinander umgehen und allgemein vorsichtiger sein werden. Aber ob die Leute bei einer Infektionsmeldung wirklich in Quarantäne gehen werden… da bin ich mir nicht sicher.»
Bei freiwilliger Quarantäne besteht kein Anrecht auf Lohnfortzahlung. Ein Grund, dem Arbeitgeber die Infektion nicht zu melden – gerade für Personen in prekären Situationen.
«Das ist ein zentraler Punkt. Wie vorhin gesagt, basiert die Freiwilligkeit auf zwei Punkten: der Information und der Abwesenheit von Zwang. In diesem Fall besteht der Zwang hingegen.»
Das heisst?
«Der Zwang ist nicht nur rechtlicher Natur. Es gibt aber einen Graubereich der Empfehlungen. Dort ist das Verhältnis zum Arbeitgeber zentral, weil das Abhängigkeitsverhältnis sehr stark ist. Der Chef kann mich rechtlich gesehen zwar nicht kontrollieren, aber Druck aufbauen. Freiwilligkeit existiert nur auf dem Papier. Dass der Lohn gegen die Gesundheit abgewogen werden muss, setzt falsche Anreize und kann dazu verleiten, jenem Punkt Vorzug zu geben, der in der eigenen Wahrnehmung stärker ist, sprich dem Lohn.»
Eine gefährliche Situation.
«Die Dimension der sozialen Gerechtigkeit scheint mir zentral. Vor der App sind nicht alle gleich. Sie und ich sind in einer guten Situation, haben die Ressourcen, dies zu verstehen und können vor allem auch Nein sagen. Andere sind dazu nicht in der gleichen Lage. Die Freiwilligkeit ist für Personen in vulnerablen Arbeitspositionen ganz anders. Wenn der Bund die Einführung der App ernst meint, muss dieses Problem gelöst und ein starkes Zeichen an die Arbeitgeber gesendet werden.»
Ein Smartphone ist Voraussetzung für die Nutzung der App. Gerade die vulnerabelsten Personen könnten die App also nicht benutzen, weil ihnen finanzielle Mittel fehlen oder im Falle von älteren Personen diese nie gelernt haben, Smartphones zu benutzen.
«Die Verbreitung des Smartphones in der Schweiz ist sehr gross und die digitale Kluft schliesst sich je länger je mehr. Das Verhältnis zum Gerät unterscheidet sich aber teils stark. Unsere Generation läuft quasi die ganze Zeit mit dem Smartphone herum. Die Generation meiner Grossmutter hat vielleicht ein Gerät, lässt es aber eher einmal zu Hause.»
Der Datenschutz wird gemäss Verordnung gewährleistet, dennoch sträuben sich einige gegen die Benutzung. Ist es nicht ein Paradox, dass viele über Social Media und Online-Käufe eine Unmenge an Daten preisgeben, die App aber nicht benutzen möchten?
«Nein, da sehe ich kein Paradox. Der grosse Unterschied ist die Rolle des Staats. Wenn ich etwas auf Facebook poste, ist das mein Entscheid. Auch wenn Facebook ein sehr mächtiger Konzern ist, kann er mich nicht zwingen, etwas zu tun. Der Staat aber kann das.»
Kann durch die Benutzung der App nicht die Gefahr entstehen, dass Bürger wieder nachlässiger mit den Sicherheitsmassnahmen umgehen?
«Ein typisches Helm-Syndrom: Trage ich einen Helm, fahre ich viel schneller Velo oder Ski, weil er mir das Gefühl vermittelt, dass ich geschützt bin. Es ist Sache des Bundes, sehr gut zu kommunizieren, dass die App per se nicht schützt. Die Chance der Diskussion um die App ist, dass sie unser Technologieverständnis stark weiterbringt. Der Lernprozess, den wir daraus ziehen können, ist enorm.»
Trotz des Lernprozesses: Sind wir für die effiziente Pandemiebekämpfung nicht zu spät dran?
«Da bin ich mir nicht sicher. Aber diese Frage liegt ausserhalb meiner Expertise. Ich glaube, dass wir lernen müssen, wie wir mittel- bis langfristig mit dem Coronavirus leben können. Und dafür ist die App sehr interessant.»
Dieser Artikel erschien erstmals am 18. Mai 2020 im Walliser Bote.