Monseigneur, wieso lässt Gott das alles zu?
Bischof Jean-Marie Lovey über Leben, Tod und Christentum während der Pandemie. Und darüber hinaus.
Es ist Dienstagmorgen. Es nieselt. Am Sitz des Sittener Bistums lädt Bischof Jean-Marie Lovey zur Audienz. Viel wurde in den vergangenen Monaten über körperliche Gesundheit geschrieben und gelesen, über Wirtschaft und die Entscheide des Bundesrates. Aber wie haben Sie es mit der Pandemie, Bischof Jean-Marie Lovey? Im Sitzungssaal zündet er noch kurz eine Kerze an, «wie immer, wenn wir in diesem Raum sind», und nimmt die Hygienemaske ab.
Jean-Marie Lovey, wieso lässt Gott diese Pandemie zu?
Ich werde versuchen, diese Frage mit Humor zu beantworten. Denn oft hilft uns Humor, Schwerverständliches zu verstehen. Ich habe eine wunderbare Karikatur gesehen, auf der Gott und der Teufel abgebildet sind. Spöttisch sagt der Teufel zu Gott: «Mit meinem Covid-19 habe ich es geschafft, all deine Kirchen zu schliessen.» Antwortet Gott: «Und ich habe in jeder Familie eine geöffnet.»
Ein schönes Bild.
Gleich doppelt schön. Der Teufel sagt, dass er am Ursprung der Pandemie stehe. Und das muss zu denken geben. Covid-19 ist nicht das Werk Gottes. Das Böse ist nicht das Werk Gottes. Niemals. Sie hatten das Feingefühl, die Frage zu stellen, wie Gott die Pandemie geschehen lassen kann. Das ist rätselhaft, bekämpft Gott doch jede Form des Übels.
Es ist die Frage der Theodizee, die eine Antwort auf die Frage sucht, wie das Leiden in der Welt mit der Annahme vereinbar ist, dass Gott sowohl allmächtig als auch gut ist. Wie antworten Sie?
Diese Frage wird ein Stachel bleiben. Leid, insbesondere das Leid der Unschuldigen, ist unerträglich. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür. Gott gesteht Freiheiten zu. Ich denke dabei an das, was wir als sekundäre Ursachen bezeichnen. Gott respektiert seine Schöpfung, die Natur und die Menschheit. Er gesteht dem Menschen Freiheit zu und respektiert sie. Wenn sich die Freiheit des Menschen gegen Gott richtet, wird er sich ihr nicht unbedingt und absolut widersetzen.
Wie meinen Sie das?
Ich habe gesehen, dass die Menschen in Raron sehr besorgt über einen zweiten Erdrutsch sind. Wenn der Boden unstabil ist, wird Gott ihn nicht mit allen Kräften zurückhalten. Er lässt die sekundäre Ursache geschehen. Im Fall des Coronavirus suchen wir also immer noch nach den Ursachen, dem Warum, dem Wie. Und wenn Dinge in Bewegung gesetzt werden, greift Gott selten auf wundersame Weise ein. Wir müssen ihm nicht vorschreiben, wie er einzugreifen hat.
Die theologische Diskussion hilft einer Person, die jemanden an oder mit Covid-19 verloren hat, letztlich nicht viel. Was sagen Sie diesen Personen?
Statt Worten gibt es Verhaltensweisen: Man kann Nähe anbieten, Hilfe. Man kann die eigene Unfähigkeit, die Hand auszustrecken, anbieten, denn das Leiden gehört einzig der Person, die leidet. Nur er oder sie kann wissen, wie es sich anfühlt. Ich kann nicht vor jemandem stehen, der leidet, und ihm sagen, dass ich verstehe und weiss, wie es sich anfühlt. Solange ich eine vergleichbare Situation nicht selbst erlebt habe, kann ich es nicht wissen. Aber wissen Sie, man ist auf dieser Reise nicht allein.
Sind Sie selbst mit der Krankheit in Berührung gekommen?
Durch Verwandte und Bekannte, die positiv getestet worden sind. Durch Bekannte, die verstorben sind. Ich selbst wurde verschont. Ich bin mir nicht sicher, ob es einen absoluten Zusammenhang von Ursache und Wirkung gibt, aber ich habe die Massnahmen befolgt, die beschlossen wurden. Während der ersten Welle im Frühjahr, als die Massnahmen noch strenger waren, wurde ich oft von Mitbrüdern gefragt, ob ich nicht in ihre Pfarrei kommen würde, um eine Messe zu feiern. Ich habe immer abgelehnt. Ich gehöre zu den vulnerablen Personen, denen immer wieder gesagt wurde, dass sie zu Hause bleiben sollen. Aus Solidarität mit diesen Menschen war mir diese Geste wichtiger, als vor Gläubige zu treten.
Als Vorbild.
Nicht so sehr als Vorbild, sondern hauptsächlich aus Solidarität. Ich war mit meinem Zuhause und den Lebensbedingungen aber auch sehr privilegiert.
Den Gläubigen soll Nähe angeboten werden, sagen Sie. Während der Pandemie wurde der Kontakt aber arg eingeschränkt. Wie haben Sie dies erlebt?
Während der ersten Welle habe ich das Bischofshaus nicht verlassen, ausser, um im Garten zu spazieren. Mit meinen Mitbrüdern und Gläubigen telefonierte ich regelmässig. Ich habe versucht, diesen telefonischen Kontakt, der zwar direkt ist, aber abstrakt bleibt, zu verstärken. Auch habe ich Botschaften an meine Mitbrüder und die Seelsorgenden wie auch an die alten und kranken Mitmenschen geschickt. Und ich konnte die Sonntagsmesse von hier aus im Fernsehen übertragen lassen. Das war eine besondere Verbindung, die ich sehr geschätzt habe.
Und in der zweiten Welle?
Ich habe die Einschränkung des Kirchenrechts, die von Priestern verlangt, nur eine Messe am Tag zu feiern, aufgehoben. An Allerheiligen zum Beispiel haben etliche Priester zwei oder drei Messen direkt in den Familien gefeiert. So konnten alle, die an den Feierlichkeiten teilnehmen wollten, dies tun. Ein kleines, aber besonderes Zeichen. Zumindest eine Möglichkeit, sich nahe zu sein.
Messen wurden gestreamed, im Fernsehen oder Radio übertragen. Ist dies der Durchbruch der Digitalisierung der Kirche?
Ich weiss nicht, ob das der Durchbruch war. Aber es war schön, dass viele diese Gelegenheit ergriffen haben. Wir mussten die Möglichkeiten ausschöpfen, die uns blieben. Es war auf jeden Fall eine gute Erfahrung, da diese Verbindung es ermöglichte, mit Menschen in Kontakt zu bleiben.
Die Digitalisierung bleibt aber eine Ergänzung.
Sie ersetzt sicher nicht die Feier. Wir müssen physisch zusammen sein, eine gemeinsame Erfahrung durchleben. Das ist die eigentliche Definition der Kirche. Wir sind eine Gemeinschaft und keine Individuen.
Und nach der Pandemie?
Wir haben Möglichkeiten entdeckt, die wir weiter ausschöpfen müssen. Die wichtigere Frage aber ist eine andere. Wie können wir den Gläubigen die Lust am gemeinsamen Gottesdienst wieder geben? Die Gefahr besteht, dass wir die Gewohnheit verlieren, bei den Feiern in der Gemeinde anwesend zu sein.
Die Pfarreien müssen wieder zusammenfinden. Wie schwierig wird das?
Es wird zumindest nicht einfach. Ich habe von vielen Gläubigen gehört, auch von solchen, die sehr religiös sind und regelmässig Messen besuchen, dass wir die Gottesdienste weiter im Fernsehen übertragen sollten. Dass es besser sei, wenn man gemütlich im Sessel hockt und eine Kerze anzündet, statt von den Banknachbarn gestört zu werden. Es hat sich eine Art Individualisierung der religiösen Praxis entwickelt, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat.
Was Ihrem Verständnis der Gemeinschaft aber widerspricht.
Ja. Es ist das völlige Gegenteil dessen, was ich unter einer Glaubensgemeinschaft verstehe.
Zur Person
Bischof Jean-Marie Lovey wurde am 2. August 1950 in Orsières geboren. Er ist das achte Kind unter elf Geschwistern. Nach der Matura tritt er 1970 ins Noviziat der Chorherren des Grossen Sankt Bernhard ein. Ab 1971 absolviert er das Theologie- und Philosophiestudium an der Universität Freiburg. Nach der Priesterweihe 1977 wird er Seelsorger am Kollegium Champittet, anschliessend am Kollegium in Sitten. 2001 wird er zum Prior des Hospizes auf dem Grossen Sankt Bernhard ernannt, 2014 von Papst Franziskus zum Bischof von Sitten.
Und grundsätzlich. Wie wird das Leben nach der Pandemie?
Wir sind noch mittendrin, also müssen wir im Moment leben. Aber wir können nicht umhin, uns zu fragen, wie es sein wird. Ich denke, dass wir akzeptieren müssen, dass es nie wieder so sein wird wie früher. Einer der Punkte, so scheint es mir, der anders sein wird, ist, dass wir zu etwas Persönlicherem aufgerufen werden. Wir haben unseren Glauben auf eine globale Art und Weise gelebt. Ich karikiere: «Es ist Sonntag, Zeit für die Messe, ich gehe hin und habe meine Tat als guter Christ getan. Nun warte ich auf den nächsten Sonntag.» Aber so war es nun mal. Der Beweis ist, dass es weniger Kirchgänger gibt und das Christentum an Schwung verliert. Die Pandemie wird die Bedeutung des Christentums, sich ausserhalb der Kirchenmauern zu engagieren, erhöhen. Das scheint mir richtig.
Aber Sie wollen das Christentum nicht auf den Kopf stellen?
Nein, nur andere Wege privilegieren, die in den letzten Jahrzehnten etwas in Vergessenheit geraten sind.
Konkret?
Die Entwicklung all dessen, was Diakonie ist, das heisst, der Dienst am anderen muss betont werden. Es ist eine Entwicklung im Gange, die wir nicht verpassen dürfen. Im Namen unseres christlichen Glaubens müssen wir es wagen, uns in diakonischen Diensten zu engagieren.
Also den Schritt aus der Kirche hinaus wagen.
Ja. Oder zumindest anerkennen, dass dies der Kern der Kirche und ihrer Anliegen ist.
Auch die Anzahl Personen an Begräbnissen wurde beschränkt. Hätten Sie einen solchen Entscheid fällen können?
Das war eine der grausamsten Massnahmen. Beerdigungen und generell alles, was rund um den Tod passiert, sind extrem sensible Momente. Wir alle dürfen uns im Angesicht von Leid und Trauer nicht allein fühlen. Dies sind legitime Bedürfnisse und Rechte, die aber allen vorenthalten wurden. Zunächst den Angehörigen des Verstorbenen, aber auch den Seelsorgern. Ich hätte mir nie vorstellen können, so eine Entscheidung zu treffen.
Und trotzdem mussten Sie.
Im März wurden die ersten kirchlichen Massnahmen durch den Bischof von Lugano ergriffen, der darum bat, alle Eucharistiefeiern einzustellen. Ich dachte erst, er hätte den Verstand verloren. Nur zwei Tage später mussten wir die gleichen Massnahmen ergreifen. Alles, was um uns herum geschah, schien unwirklich. Aber wir mussten anerkennen, dass dies der beste, vielleicht der einzige Weg ist.
Gerade bei Ereignissen, in denen die Gemeinschaft so wichtig ist, musste sie beschränkt werden. Wie können Menschen so trauern?
Wir haben den Priestern, den Seelsorgern und Seelsorgerinnen nahegelegt, die trauernden Familien nicht im Stich zu lassen und ihnen eine Begleitung anzubieten, sobald die Zeiten wieder besser sind. In den Todesanzeigen wird heute systematisch darauf hingewiesen, dass die Trauerfeier im engsten Umfeld stattgefunden habe und eine Gedenkfeier zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden wird. Es ist wichtig, die Erfahrung der Trauer durch einen Ritus leben zu können.
Trauer ist ein Prozess. Wird dieser Prozess durch diese Massnahmen nicht verlängert?
Das ist unvermeidlich. Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht trauern können, können diese Wunden nicht heilen. Es sind Wunden, die jederzeit wieder aufreissen können. Eine Beerdigung im engsten Kreis kann durchaus als zusätzliches Leid empfunden werden. Es sind aber nicht nur die Lebenden, die ihrer Toten beraubt werden, sondern auch die Toten, die ihrer Hinterbliebenen beraubt werden. Das ist schrecklich.
Der Tod wird in der heutigen Gesellschaft tabuisiert. Hilft die Pandemie der Enttabuisierung?
Ich denke schon. Ich weiss nicht, ob wir von Enttabuisierung sprechen sollten. Der Tod aber ist Teil unserer Geschichte. Wie wir ihn in unsere eigenen Erfahrungen integrieren, ins gesellschaftliche Leben, müssen wir wieder lernen. Räumen wir dem Tod den Platz frei, den er verdient, oder geraten unter dem Vorwand, der Tod sei unmöglich, in Panik? Der Tod ist natürlich, aber er stellt die Möglichkeiten und das Machtgefühl des Menschen infrage. Vielleicht müssen wir diese Demut, auf die Realität zu blicken, akzeptieren. Wir sind alle vergänglich. Und die Pandemie erinnert uns auf eine sehr brutale Weise daran.
Als pro Messe nur eine bestimmte Anzahl Menschen in die Kirche durfte, ging das nach dem Prinzip «first come, first served». Das entspricht aber auch nicht wirklich Ihren Überzeugungen, oder?
Nein, überhaupt nicht. Es gab Leute, die freiwillig zu Hause blieben, um ihre Plätze für andere freizugeben. Aber wir mussten uns trotzdem die Frage stellen, nach welchen Kriterien wir entscheiden, wer teilnehmen darf. Ich habe an Weihnachten die Mitternachtsmesse in der Kathedrale gefeiert, die im Fernsehen übertragen wurde. Wer würde kommen? Wie würden wir vorgehen? Warten wir an der Tür und schliessen sie, sobald 50 Leute da sind? Planen wir im Voraus und verschicken Einladungen? Aber warum einige Leute einladen und andere nicht?
Wie sind Sie schliesslich vorgegangen?
Normalerweise ist die Kathedrale zum Bersten voll. Konkret haben wir regelmässigen Teilnehmern der Mitternachtsmesse vorgeschlagen, Delegationen zu schicken. Jeweils einige Personen für die Stadt, die Pfarrei, die Burgerschaft. Dann haben wir auch vorgeschlagen, dass der Verein Fratello, der sich um die Bedürftigsten kümmert, einige Personen schicken darf. Letzten Endes waren wir insgesamt 50 Personen. Nur. Wie schade das war!
Weniger Gläubige in der Kirche, andererseits berichten viele Geistliche, dass ihre Seelsorgetätigkeit zugenommen hat. Zeigt dies, dass die Kirche, auch wenn keine Gottesdienste durchgeführt werden, eine stärkere Berechtigung hat, als oft behauptet wird?
Mir gefällt, dass Sie sagen «auch wenn es keine Gottesdienste gibt». Ich denke, dass dies der grösste Knackpunkt ist. Einige Menschen fühlten sich gewaltsam aus der Kirche gedrängt, weil keine Messe mehr gefeiert wurde. Es gibt aber andere Möglichkeiten, seinen Glauben zu nähren und auszudrücken. Viele haben entdeckt, dass wir unseren christlichen Glauben auch ausserhalb der Kirchenmauern leben können und müssen. Wenn der christliche Glaube nur darin besteht, an der Messe teilzunehmen, dann verpflichtet uns das nicht sehr stark. Der christliche Glaube betrifft jedoch unsere Art zu sein und unser ganzes Leben.
Jean-Marie Lovey, Sie sind nun 70 Jahre alt und gehören damit in die Risikogruppe. Lassen Sie sich impfen?
Ja, natürlich. Aber erst, wenn ich an der Reihe bin. Ich werde nicht vordrängeln.
Widerspricht die Impfung nicht Ihrem Weltbild?
Nein. In diesem Punkt würde ich sogar das Gegenteil behaupten. Die Impfung stellt eine breite, allumfassende Immunisierung dar. Ich trage also dazu bei, das Virus zu bekämpfen, indem ich mich impfen lasse. Es ist letztlich eine Geste der Solidarität.
Dieses Interview erschien erstmals am 5. Februar 2020 im Walliser Bote.